"Hella von Sinnen ertappt sich gelegentlich beim Beten. Matthias Brandt ahnt nicht, was ihm noch passieren kann. Dunja Hayali sucht sich heraus, was sie gerade braucht, Devid Striesow hält Zugänge für möglich. Die spirituelle Feministin, der neutral-offene Agnostiker, die Patchwork-Religiöse, der suchende Konfessionslose - sie sind offen für den Glauben, aber sie können gut leben ohne Konfession. Für ihr Leben ist die Kirche – zumindest zur Zeit – kaum relevant."
Das berichtete am 17. April 2018 der Leiter des "EKD-Zentrums Mission in der Region", Hans-Hermann Pompe vor der bayrischen Landessynode (in Anlehnung an die Untersuchung von Hanno Gerwin, Was Deutschlands Prominente glauben, 2006). Schon allein diese Beobachtung deutet darauf hin, dass die sogenannte Säkularisierungshypothese nur bedingt zutrifft, wenn man darunter die Neigung versteht, auf die Rückbindung an Gott, Transzendenz, Offenbarung, Religion zu verzichten. Vielmehr steigt die Zahl derer, die die Frage danach offen lassen: "Sie bilden die Mehrheit der Bevölkerung… (sie)… (lassen) die Gottesdfrage und die Kirchenbindung offen". "Aber interessanterweise steigt auch die Zahl der Atheisten kaum", zitiert Pompe den FAZ-Journalisten Markus Günter. " Man könnte ja meinen, dass die Abwendung von den Kirchen mit einem kräftigen Aufschwung des Atheismus einhergehe. Doch davon kann keine Rede sein. (...) Für die große Mehrzahl der Menschen in- und außerhalb der Kirche bleibt die Frage nach Gott ein Leben lang ein Thema, mit dem sie nie ganz fertig werden."
Das legt die Vermutung nahe, dass die Menschen nicht erst seit wenigen Jahren, und dass immer mehr, ihre Religionslosigkeit entdecken und daraus mehr oder weniger unumkehrbar ihre Schlüsse ziehen und sich von der Kirche distanzieren. Vielmehr bleibt Großteil der Bevölkerung indifferent, legt sich nicht fest, lässt die Frage offen. Meine Frage ist: War des je anders? Findet die sogenannte Säkularisierung nicht schon seit den Tagen der Reformation statt? War der Kreis der kirchlich Gebundenen, die ihren Glauben praktizieren, nicht schon immer die Minderheit - und die Zahl der mehr oder weniger Indifferenten nicht schon immer überwältigend hoch?
Ich bin kein Soziologe und kann das nur vermuten, nicht behaupten. Aber wenn dem so wäre, wenn dies tatsächlich zuträfe - dann gehen wir schon seit Jahrzehnten von falschen Voraussetzungen aus. Nicht dass die Menschen irgendwann einmal ein größeres Interesse an Kirche hatten als heute. Vielmehr ziehen die Menschen heute andere Konsequenzen als damals und verweigern die Mitfinanzierung eine Institution, die sie nicht mehr berührt oder abholt oder ihnen noch etwas sagt. "Westeuropa ist christliche als gedacht", stellt das Washington Pew Research Institute nach der Befragung von 24.000 Menschen in 15 Ländern fest (Quelle: DLF, Tag für Tag, Sendung vom 30. Mai 2018). Demnach zählen sich noch immer ca. zwei Drittel der Bevölkerung Westeuropas zu den Christen, unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Kirche. Die Rede "Ende der Volkskirche", von der "Kirche in der Diaspora", der "Minderheiten-Kirche" und dergleichen trifft also bei weitem nicht den Kern. Im Gegenteil. Eine Kirchenentwicklung, die von der Annahme ausgeht, in greifbarer Zukunft nur noch eine Minderheit zu repräsentieren, würde verheerenden Schaden anrichten. Sie würde einen Großteil, nämlich jene zwei Drittel, mit ihren Fragen nach Sinn, Heimat, Verwurzelung und Religion völlig allein lassen - und fast möchte man fragen: Ist der Zulauf von Rechten und Populisten in Europa da wirklich so unerklärlich? Wenn die Kirchen nicht mehr in Reichweite sind, dann müssen die Menschen ihre existenziellen Fragen anders beantworten. Sie halten Ausschau, wer solche Antworten bereithält - und wer bietet sich dann an?
Die sogenannte "Säkularisierung" hat also weniger mit den Menschen zu tun, als mit den - sowohl evangelischen wie katholischen - kirchlichen Strukturen, die völlig veraltet sind und der gegenwärtigen Situation nicht mehr gerecht werden können. Es hat den Anschein, dass die Reformen der vergangenen Jahre, die vor allem in Regionen und Großräumen denken und die Ortskirche, die Kirche vor Ort deutlich vernachlässigen, diese Entwicklung eher beschleunigen als aufhalten.
Was jetzt zunehmend nötig und wichtig wird, dass wir uns Gedanken darüber machen, was die Kirche eigentlich ist und ausmacht:
- Entscheidend ist, dass das Leben der Kirche und der Gemeinden nicht auf formale Mitgliedschaft beruht, sondern auf die aktive Ausübung, d. h. die Praxis des evangelischen und katholischen Glaubens. Wie soll eine Kirche ausstrahlen, wenn das nicht oder kaum geschieht?
- Entscheidend ist, die Kirche als Beziehungs-Geschehen aufgefasst wird, als ein Netz von Menschen, die zueinander in Beziehung stehen, das in der Lage ist, auch andere Menschen aufzufangen und zu vernetzen.
- Entscheidend ist nicht zuletzt, dass die Gottesdienste als Ort der Anwesenheit Gottes gefeiert werden, als Orte, an denen Gott und Mensch sich wirklich begegnen. Man kann nicht behaupten, dass dies heute überall und in jedem Gottesdienst so spürbar ist.
Natürlich war es immer so und wird es immer so sein, dass nur ein kleiner Teil der sich als christlich verstehenden Bevölkerung wirklich aktiv das kirchliche Leben mitträgt. Aber das hat seine Ordnung so. Wichtig ist, die Offenheit und Durchlässigkeit zu wahren, die kennzeichnend sind für solche lebendigen Kerne.
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