Nein, seien wir ehrlich. Die wieder deutlich angestiegenen Kirchenaustritte haben wenig mit den Missbrauchsfällen zu tun, die die Öffentlichkeit gerade beschäftigen. Da sind ein paar, die deswegen austreten, aber das ist allenfalls der Anlass, nicht der wirkliche Grund...
Schauen wir ins Land, schauen wir in unsere Städte, schauen wir dorthin, wie unsere evangelische Kirche in Erscheinung tritt, wenn sie es überhaupt tut. Das erste, was man sieht. Die Tür ist zu. Die Kirche ist verschlossen. Kein Mensch da. Kein Leben. Was strahlt sie aus? Was assoziieren die Menschen spontan, wenn sie das Wort evangelisch hören? Was für ein Bild von uns haben sie im Kopf, wenn sie denn überhaupt eins haben?
Was ja nicht heißt, dass nichts geschähe in der evangelischen Kirche. Es passiert unglaublich viel. Kirchliches Leben ist an Vielfalt kaum zu überbieten. Die evangelischen Pfarrerinnen und Pfarrer sind in der Regel unglaublich fleißig, engagiert, innovativ. Darunter sind kreative Köpfe und echte Originale. Aber sie machen ihr eigenes Ding. Ihr Pfarramt ist dafür die Plattform. Man kann leicht die Meinung hören: Ich gehe in die Kirche X, weil Pfarrerin Y oder Pfarrer Z so tolle Sachen macht. Aber kaum noch: Ich geh dahin, weil ich vom christlichen Glauben oder vom evangelischen Christentum so fasziniert bin. Wie viele meine Kolleginnen und Kollegen sind zwar loyal zu ihrer Kirche, aber gehen längst auf innere Distanz zu ihr und es ist ihnen unangenehm, sich öffentlich mit ihr zu identifizieren. Wir sind nicht selbstbewusst, weil wir evangelisch sind, sondern freuen uns, wenn man uns trotzdem lieb hat.
Man mag solche evangelische Leisetreterei - die sich am schärfsten in der Schließung von Kirchen zeigt - auf allerlei Weise theologisch oder geistliche Weise begründen, weil man ja keinen Machtanspruch erheben oder jede Form von Triumphalismus vermeiden möchte. Aber es gibt eine Form von christlicher Demut, die nur noch fatal und eigentlich bequem und verlogen ist. Es mag ja sein, dass die Zeiten der Volkskirche wirklich vorbei sind, aber das ist kein Grund, den Anspruch, öffentliche Kirche zu sein, aufzugeben. Man muss sich nur mal experimentell vorstellen, was passierte, wenn katholische und evangelische Kirche ganz aus unserem Gemeinwesen verschwänden. Welche Geister würden sich dann unserer Gesellschaft bemächtigen! Welche verheerenden, zerstörerischen Mächte würden dann die Menschen in ihre Abhängigkeit bringen! Schon das Aufkommen der rechten Kräfte in Europa macht deutlich, dass gesunder Menschenverstand, Werte und Menschenrechte wahrlich keine Selbstläufer sind. Es gibt ein schuldhaftes Verschweigen des Anspruchs, den wir an unsere Zeitgenossen richten und Verweigern des Dienstes, den an der Öffentlichkeit zu leisten wir die Verantwortung haben.
Die Gottesdienste werden immer leerer, schreiben die Medien jeden zweiten Tag, so als wollten sie ein Auslaufmodell zum Sperrmüll bringen. Der Gottesdienst ist aber mit das wertvollste, was wir haben. Und wenn nur zehn oder gar nur drei kommen, alle nicht unter sechzig, diese zehn oder drei leisten einen kaum zu unterschätzenden Dienst, der für die Gesellschaft unverzichtbar ist: Sie halten die Kirchen offen. Sie halten den Gottesdienst lebendig. Sie sorgen dafür, dass die Kirche im Dorf bleibt. Man muss sich einfach nur vorstellen: Da unterstehen wir Pfarrerinnen und Pfarrer uns, mit dem Anspruch, im Namen Gottes aufzutreten, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Sonntag für Sonntag haben wir die Gelegenheit, die Tiefe der biblischen Überlieferung auszuloten und öffentlich zu machen! Was für eine Wucht verbirgt sich in diesen beiden kleinen Sätzchen: Dies ist mein Leib, und: Dies ist der Neue Bund in meinem Blut, mit denen dass alles zur Gegenwart wird! Welche Tiefe bergen die Worte des Jesusgebetes, etwa: Dein Name werde geheiligt, dein Reich kommen, dein Wille geschehe! Und welche Vollmacht traut man uns zu, wenn wir am Ende des Gottesdienste den Segen auf die Gemeinde legen: Er erhebe sein Angesicht auf dich und gebe die Frieden!
Wir stehen vor der Herausforderung, die Faszination des evangelischen Christentums wieder zu entdecken und wieder zugänglich zu machen. Das ist der Grund, warum ich für eine echte evangelische Lebenskunst plädiere. Vielleicht lässt sie sich in diesen vier Kernsätzen bündeln:
1. Evangelisch ist, wer sich und alles loslässt.
2. Evangelisch ist, wer sich mit der biblischen Überlieferung vertraut macht.
3. Evangelisch ist, wer sich verbündet.
4. Evangelisch ist, wer Verantwortung übernimmt.
Wer genau hinschaut, entdeckt darin den Vierschritt, der dem evangelischen Gottesdienst und damit auch dem "kleinen Dreimalvier" - als mögliche Beschreibung einer evangelischen Lebenskunst - zu Grunde liegt, die Anrufung Gottes, die Verkündung des Wortes, die Sakramente sowie Sendung und Segen.
Hier habe ich diese vier Kernsätze der evangelischen Lebenskunst näher entfaltet:
1. Evangelisch ist, wer sich und alles loslässt.
Es geht darum eine Haltung einzunehmen, und wer eine Haltung hat, wenn sie echt ist, der strahlt sie aus und steckt zuweilen andere damit an. Haltung meint nicht, was ich halte oder woran ich mich festhalte. Gemeint ist viel mehr, was hält mich? So sehr, dass ich mich entspannen, mich und alles loslassen kann. Haltung lässt sich auch mit Gelöstheit oder Gelassenheit wiedergeben. Es geht um die Frage, worauf ich mich verlassen, absolut verlassen kann. Das ist ja mit Glauben gemeint. Wenn es nichts gibt, dann muss ich mich auf mich selbst verlassen, was zur Anspannung, Verspannung, Verkrampfung, Verkrümmung, zu Luthers "homo incurvatus in se" führt. Genau davon werden wir ja durch den Glauben erlöst. Es gibt also einen tiefen und für den einen oder anderen möglicherweise verborgenen Zusammenhang zwischen Gelassenheit und Gott - oder zwischen der Verkrampfung und der Abwesenheit Gottes. Ein Kennzeichen echten Christentum sind die Menschen, die Gelassenheit, Gelöstheit, Entspannung und Unbekümmertheit ausstrahlen: Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder!
2. Evangelisch ist, wer sich mit der biblischen Überlieferung vertraut macht.
Vielleicht haben wir Evangelischen das Bibellesen verlernt, vielleicht auch deswegen, weil uns kaum jemand anleitet. Wir sind es gewohnt, wenn wir denn schon in der Bibel lesen, sie in Gestalt isolierter, abgeschnittener Texte ("Perikopen") wahrzunehmen. Dazu trägt natürlich auch die Ordnung der Predigttexte bei. Mit diesen abgeschnitten Texten beschäftigen wir uns zuweilen intensiv und detailliert. Was uns dabei entgeht, ist der große Zusammenhang. Die Bibel ist über Jahrtausende gewissermaßen aus sich selbst heraus gewachsen. Sie ist der Dokumentation einer langen Geschichte, die ja auch noch nicht abgeschlossen ist und an der wir selber teilhaben. Ohne eine gründliche Kenntnis dieser Geschichte und Geschichten ist ein evangelisches Christentum kaum denkbar; die Rückkehr und genaue Wahrnehmung der biblischen Überlieferung ist dafür kennzeichnend. Wir stehen vor der Aufgabe, unsere Gemeinden dort zu beheimaten.
3. Evangelisch ist, wer sich verbündet.
Mit dem "Neuen Bund", den Jesus beim letzten (Pessach-)Mahl mit seinen Jüngern eingesetzt hat und der mit seinem Tod und seiner Auferstehung in Kraft getreten ist und den wir bei jeder Abendmahlfeier erneuern, hat sich Jesus verlässlich gemacht. Wer einen Bund schließt macht sich verlässlich. Damit wird die Voraussetzung geschaffen, dass auch wir uns mit Gott und untereinander ver-bünden. Der Bundesschluss ist Gründungsakt einer Gemeinde im neutestamentlichen Sinn, die geschwisterschaftlichen Charakter hat. Bruderschaften, Schwesternschaften, Geschwisterschaften - wie etwa die Michaelsbruderschaft, der ich angehöre - sind das Zukunftsmodell einer Kirche von Morgen. Sie gehen darauf zurück, dass Schwestern und Brüder miteinander - und mit Gott - einen Bund eingegangen sind. Sie machen sich so gegenseitig füreinander verlässlich. Die reine Kirchenmitgliedschaft wird wohl auf Dauer immer mehr an Bedeutung verlieren, die geschwisterschaftliche Verbündung und die Möglichkeit, sich gegenseitig aufeinander zu verlassen, wird dagegen immer wichtiger werden.
4. Evangelisch ist, wer Verantwortung übernimmt.
Aber nicht nur gegenseitig, sondern auch für andere sollen die Geschwister verlässlich werden. Menschliches Zusammenleben, in welcher Form auch immer, kann nur funktionieren, wenn Menschen dafür Verantwortung übernehmen. Daran besteht die Mission, das Apostolat, die Sendung, Verantwortung für die anderen zu übernehmen und damit Zeugnis dafür zu geben, dass Gott die Verantwortung für seine Schöpfung und für seine Geschöpfe nicht abgegeben hat - und noch immer die Menschen daran beteiligt, sie wahrzunehmen. Davon lässt er sich auch nicht dadurch, dass der Mensch immer wieder darin versagt, abhalten.
Dass wäre, in einer Nussschale formuliert, der Kern der evangelischen Lebenskunst.
Kommentar schreiben