Es ist Wahlsonntag. Europawahl. Und ich mache mir wegen heute Abend Sorgen. Fast möchte ich sagen, ich habe ein bisschen Angst. Bis vor wenigen Jahren konnte man sagen: Unsere Demokratie, unser
gerade 70 Jahre alt gewordenes Grundgesetz sorgt dafür, dass sich im Großen und Ganzen und mit nur wenigen Ausreißern der gesunde Menschenverstand immer wieder durchsetzt. Inzwischen ist das
nicht mehr ganz so sicher. Die Demokratie kann nur funktionieren, wenn auch potenzielle Feinde der Demokratie sie in Anspruch nehmen können. Das macht, dass die Demokratie immer gefährdet ist.
Heute abend werden wir erleben, dass etliche Sitze im Europaparlament von Abgeordneten besetzt werden, die Europa gar nicht wollen. Die gar nicht konstruktiv mitwirken wollen. Die kein Interesse
daran haben, um gemeinsame Lösungen zu ringen. Da werden Leute sitzen, die Europa beenden wollen, die bewusst destruktiv sind, die sich der Zusammenarbeit verweigern. Sie werden in manchen
Staaten satte Mehrheiten hinter sich scharen können. Die Verrohung der Politik macht heute einen großen Schritt nach vorn.
Was ich mich frage ist – und es ist eine echte, keine rhetorische Frage – ob es möglicherweise einen Zusammenhang gibt zwischen dem Niedergang politischer Sitten und dem europaweiten
Autoritätsverlust der Kirchen. Es könnte doch sein, dass dort, wo die Kirchen nicht mehr gehört werden und ihr Wort nicht mehr ernst genommen wird – ein Vakuum entsteht, eine Leerstelle, und
womit sie sich füllt, entzieht sich dann jeder Kontrolle. Niemand, wirklich niemand wird genötigt, sich der Wahrheit des Evangeliums zu unterstellen. Jeder hat heute die Freiheit, dies für sich
zu entscheiden. Aber jeder, wirklich jeder wird sich die Frage stellen müssen, worauf er sich verlässt, was ihm Halt gibt, Orientierung, Heimat, was ihm Sinn und Auftrag gibt und wovor er sich
verantworten will. Anders gesprochen: Jeder, wirklich jeder wird sich fragen müssen, woran er glaubt. Wenn der Mensch darauf eine Antwort findet, dann bekommt sein Leben ein Fundament, auf dass
sich aufbauen lässt. Wenn der Mensch darauf keine Antwort findet, wird er sich zwangsläufig radikalisieren müssen, gewalttätig werden, feindlich gesonnen, bedrohlich für andere, bis hin zum
Extremisten, Terroristen oder Diktator. Wer keinen Boden unter den Füßen hat, schlägt zwangsläufig um sich. Der Niedergang der politischen Kultur in Europa – und auch anderswo – ist Ausdruck
einer um sich greifenden Heimatlosigkeit.
Aber Heimat suchen sie eben nicht bei uns, nicht in den Kirchen. Die haben als Heimatstifter, Orientierungsvermittler, als Sinngeber ausgedient. Meine Frage ist, ob es so kommen musste. Ob das vermeidbar gewesen wäre. Ob es unter anderen Umständen auch denkbar wäre, dass die Kirchen eine glaubwürdige, vertrauenswürdige, allgemein anerkannte und kaum in Frage gestellt Instanz hätten bleiben können. Ob also die Kirchen diese Entwicklung selbst verschuldet haben. Ich bin nämlich, anders als viele meine Kolleginnen und Kollegen, davon überzeugt, dass sie die Kirchen am sogenannten christlichen Europa eine echte Aufgabe hätten und das Europa eigentlich die Weisung und Verkündigung der Kirchen braucht. Aber sie kann diese Berufung nicht mehr wahrnehmen. Dafür hat sie zu viel Vertrauen verloren.
Ich komme auf diese Frage gleich zurück und werfe zunächst einen Blick auf den Predigttext dieses Sonntags: „Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er's euch
geben. Bisher habt ihr um nichts gebeten in meinem Namen. Bittet, so werdet ihr empfangen, auf dass eure Freude vollkommen sei… denn er selbst, der Vater, hat euch lieb, weil ihr mich liebt…
Dies habe ich mit euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt.“ Das ist schon eine sehr familiäre, fast schon intime Sprache, mit der Jesus hier sein Schüler anspricht. Sie weist auf das enge und
vertraute Verhältnis zwischen Gott und ihnen hin, ein Verhältnis, das durchaus dem vergleichbar ist, dass normaler Weise zwischen Mama und Papa und den Kindern herrscht. Wenn man im
Johannesevangelium liest, muss man sich immer die Generalüberschrift vor Augen halten, wie sie der Evangelist ganz zu Anfang formuliert hat: Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn
nicht auf. Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden.
Die Macht, Gottes Kinder zu werden. Die Macht also, ein solches familiäres, vertrautes, intimes Verhältnis zu Gott einzugehen. Da stellt sich schon die Frage, wie wir normalerweise eigentlich mit Gott reden, wie wir mit ihm umgehen. Reden wir noch miteinander oder ist da eine Sprachlosigkeit eingetreten? Leben Gott und wir aneinander vorbei, haben wir uns noch was zu sagen oder tauschen wir nur höfliche Floskeln aus. Ist die Stimmung zwischen uns gereizt, weil wir uns gegenseitig nicht mehr verstehen, oder herrscht da zwischen eine große Offenheit, gehen wir ehrlich miteinander um und sprechen furchtlos aus, was zu sagen unangenehm sein könnte? Hören wir jeder auf den anderen, verstehen wir uns gegenseitig noch oder sind wir ratlos im Umgang miteinander. Sind wir so aneinander gewöhnt, dass eh nichts spannendes mehr passiert oder entdecken wir uns gegenseitig täglich neu? Wie sind es aus zwischen Gott und uns?
Man kann diese Frage nicht trennen von dieser anderen Frage, ob die Kirchen im christlichen Europa noch eine ernstgenommene und glaubwürdige Instanz sind. Denn die Kirchen – und ich rede jetzt
von der katholischen und der evangelischen – haben sich immer als Vormund verhalten. Sie haben immer gemeint, mit ihren Denkschriften und Kanzelworten, mit ihren bischöflichen und kirchenleiten
Kommentaren sagen zu können, was gelten soll und was nicht. Wir Pfarrerinnen und Pfarrer sind ständig geneigt, den Menschen sagen zu wollen, was richtig und falsch ist. Die Kanzel ist eine große
Versuchung, als wären meine Kolleginnen, Kollegen und ich tatsächlich in der Lage den Leuten ins Gewissen zu reden. Das vermissen sie nicht, und deswegen kommen sie auch nicht. Sie brauchen
unsere Vormundschaft nicht. Sie brauchen unser Vorbild. Sie können auf unsere gut gemeinten Ratschläge gut verzichten – aber nicht, dass wir ihnen vorleben, was wir glauben. Wie sollen Sie
glauben können, was sie nicht erleben? Wenn zwischen Gott und uns ein solch vertrauensvolles Verhältnis herrscht, wie Jesus das im Johannesevangelium beschrieben haben, dann wird das nicht im
Verborgenen bleiben. Das strahlt aus. Das steckt an. Da ist etwas spürbar. Für den Leib Christi gilt, was für jeden Menschen gilt: Wenn die Körpersprache etwas anderes sagt als das, was einer
sagen will, überzeugt es niemanden. Wenn wir als Kirche etwas sagen, sei es auf der Kanzel, in den Medien oder in amtlichen Verlautbarungen, was wir nicht ausstrahlen, bleiben wir trotz aller
wohlgesetzten Worte stumm. Und das Verstummen der Kirchen hat die politische Verrohung in Europa zumindest nicht aufgehalten.
Was in einer solchen Lage zu tun ist, das ist eigentlich nicht schwer zu formulieren. Was ist also zu tun? Das ist eindeutig: Einfach mal die Klappe halten. Wir müssen nicht ständig, über welche
Medienkanäle auch immer, an die Menschen und an die Öffentlichkeit wenden. Wir müssen ihnen nicht missionarisch nachlaufen. Die kommen schon von selbst, bei Zeiten. Viel wichtiger als die Frage,
welche Botschaften wir gerade meinen zu verkündigen zu haben, ist die Frage: Wie leben wir und was strahlen wir aus? Was spürt man uns ab, was sieht man uns an, wie erlebt man, was evangelisch
ist an uns, wie nimmt die Rechtfertigung allein aus Gnaden in, mit und unter uns Gestalt an. Das ist nicht die Sache von Bischofsworten und kirchenleitenden Beschlüssen. Da ist wirklich jede und
jeder von uns gefragt. Dann das ist es, was Europa von uns braucht. Es braucht uns nicht als Vormund, sondern als Vorbild. Es braucht nicht die Anweisung, sondern die Anschauung. Die Leute sollen
spüren, welches Verhältnis zwischen uns und Gott herrscht – und sie spüren es. Evangelisches Christentum ist eigentlich von atemberaubender Schönheit und Faszination. Aber es braucht Wachheit,
Geduld, Übung, Ausdauer und Gelassenheit.
Das ist der (geringfüg überarbeitete) Text der Predigt, die ich am 26. Mai - Europawahlsonntag - in Solingen-Ketzberg gehalten habe. Ausgangstext war Johannes 16,23-33.
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