Kümmert euch um die Wurzeln – die Früchte kommen von selbst!

Tiefe und Weite, oder: Von der inneren Logik des evangelischen Christentums

Gedanken vom "Abend der Begegnung" am 19. November in SG-Ketzberg

  • Was Früchte tragen soll, muss Wurzeln schlagen.
  • Was die Weite sucht, kann nur aus der Tiefe kommen.
  • Wir sind damit beschäftigt, wie wir die Früchte verkaufen können…
  • …statt erst einmal auf die Wurzeln zu achten.
  • Kümmert euch um die Wurzeln
  •  die Früchte kommen von selbst!

Die Idee zu diesem Thema – Tiefe und Weite – ist mir in einer Presbyteriumssitzung gekommen. In dieser Sitzung ging es um Pläne und Projekte. Viele Ideen standen im Raum. Sie wurden danach sortiert, welche in die Tiefe und welche in die Weite gingen.

Es stellte sich heraus, dass nahezu alle gesammelten Ideen in die Weite wollten. Niemand wollte in die Tiefe. Genau das ist das Problem. Wir schauen auf die Fassade, statt uns ums Fundament zu kümmern. Das ist hübsch und ansehnlich, aber nicht von Dauer.

Während ich über Tiefe und Weite räsonnierte, stand, überraschend, noch ein anderes Thema im Raum: Der Gottesdienst am Sonntagmorgen. Das hat mit „Tiefe und Weite“ zu tun! Als Folgerung aus der „Kirchengangsstudie 2019“ wurde in den Fluren der EKD-Kirchenkanzlei darüber diskutiert, ob der Hauptgottesdienst am Sonntagmorgen notfalls auch entbehrlich sei:

Der klassische agendarische Gottesdienst erscheint im Lichte der Antworten als Zielgruppengottesdienst, der nur für einen Bruchteil der Kirchenmitglieder attraktiv ist. Zugleich bleibt er für das allgemeine Image des Gottesdienstes prägend.“

Daraus folgt:

"Der normale Sonntagsgottesdienst, der das öffentliche Bild des Gottesdienstes nach wie vor stark prägt, ist dagegen nur für eine überschaubare Zielgruppe attraktiv. Seinem Anspruch eines für alle gültigen Hauptgottesdienstes wird er meist nicht gerecht. Angesichts schwindender personeller und finanzieller Ressourcen, vor allem aber mit Blick auf diese geringe Reichweite sollte vielerorts engagierter und ergebnisoffener über seinen Fortbestand diskutiert werden."

Solche Folgerungen aus der – ausschließlich soziologisch, marketingstratetisch und betriebswirtschaftlich argumentierenden und im übrigen komplett inhaltsfreien Kirchengangsstudie zu ziehen, grenzt geradezu an Zynismus. Das Entscheidende ist das Stichwort „Zielgruppe“. Es stammt aus der Werbebranche. Wenn man den Hauptgottesdienst am Sonntag in ein Zielgruppenraster einsortiert, hat er natürlich verloren. Aber eine solche Einordnung wird ihm auch nicht im Ansatz gerecht. Es gibt eine Fülle von Gründen, warum der Sonntagsgottesdienst nicht entbehrlich nicht, auch teilweise und auf Probe nicht:

  • Der Sonntagsgottesdienst ist Erkennungsmerkmal und Markenzeichen der Kirche (evangelisch wie katholisch!)

  • Er gibt dem Sonntag seine eigentümliche Prägung. Geht der Sonntagsgottesdienst verloren, stirbt schließlich auch der Sonntag!

  • Er lässt an der biblischen bzw. Christus-Geschichte teilhaben und vergegenwärtigt diese in der versammelten Gemeinde. Das braucht und bedingt in Bewahrung und Weiterentwicklung Kontinuität, Tradition und Rückbindung an den Ursprung.

  • Er gewährleistet die Präsenz des Evangeliums, des Leibes Christi, des Volkes Gottes inmitten unserer Tage.

  • Er ist – bisher jedenfalls – von einer großen Verlässlichkeit gekennzeichnet. Er findet statt am Sonntag, gar keine Frage.

  • Er findet vor Ort statt, da, wo die Menschen wohnen (und jeder Mensch wohnt irgendwo!).

  • Er ist vertraut und gewährt Heimat und man muss das Rad nicht jeden Sonntag neu erfinden.

 

 Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Gottesdienst am Sonntagmorgen nicht reicht und dass wir Gottesdienste brauchen, die sich an bestimmte Zielgruppen richten und an besonderen Orten, zu besonderen Zeiten und in besonderer Gestalt gefeiert werden. Aber diese Gottesdienste können den Hauptgottesdienst niemals ersetzen.

 

Es kann ebenso kein Zweifel sein, dass sich der Gottesdienst am Sonntag in einer tiefen Krise befindet. Die Berliner Kirchenhistorikerin Dorothea von Wendebourg hat dies mit drastischen Worten, aber doch wohl zutreffend, auf den Punkt gebracht:

„Wir haben viel zu viele Gottesdienste, die Leerlauf bieten, die anöden, die den Menschen verdummen und wir haben zu viele Pastoren, die einem Sachen zumuten, die man sich als denkender Mensch nicht zumuten lassen muss. Der Gottesdienst ist weitgehend leer, weil er schlecht ist und hat dann natürlich keine Ausstrahlung, weil er leer ist. Das ist dann eine Zirkelbewegung, die immer schlimmer wird. Aber es gibt ja Gemeinden, wo das anders aussieht.“

Die emeritierte Theologin und Bibeldidakterin Gisela Kittel sieht einen engen Zusammenhang mit der Art und Weise, wie in der Gegenwart das Pfarramt wahrgenommen wird:

„Nebenbei mag auch noch der andere Grund mitschwingen, dass Pfarrpersonen auf diese Weise ganz einfach entlastet werden. Haben sie doch genug zu tun, den Gemeindebetrieb mit seinen verschiedenen Kreisen, Sitzungen und Besprechungen, dem Besuchsdienst, den Freizeiten und Gemeindefahrten und – nicht zuletzt - der Verwaltungsarbeit aufrecht zu erhalten. Wie entlastend ist es da, nicht mehr selber den sonntäglichen Gottesdienst und die Predigt vorbereiten zu müssen, dies einem Kollegen überlassen zu können. Ja, am Ende muss man auch nicht mehr selbst bei diesen zentralisierten Feiern anwesend sein.“

Durch diese Entwicklung sind wir vor eine Entscheidung gestellt, die unausweichlich zu sein scheint:

  • Ersetzen wir ersetzen den Sonntagsgottesdienst der Ortsgemeinde durch alternative Gottesdienste zu anderen Zeiten an anderen Orten und für bestimmte Zielgruppen (was nicht ausschließt, dass der Gottesdienst auch mal sonntags gefeiert wird)…

  • …oder wir setzen alles daran, den Sonntagsgottesdienst der Ortsgemeinde zu erneuern (was alternative Gottesdienste nicht ausschließt).

 

Meine Hoffnung ist natürlich, dass unsere Kirche sich entschlossen und eindeutig für die zweite Option) entscheidet. Wie man sich auch immer entscheiden mag, ein weiteres zu bedenken ist unerlässlich: Die Erneuerung und Weiterentwicklung des Gottesdienstes beginnt, so oder so, nicht im Gottesdienst selbst, sondern außerhalb desselben. Und damit sind wir wieder beim Thema Tiefe und Weite. Es ist ja häufig so, dass der Gottesdienst von einer Person gehalten wird, statt dass er von einer ganzen Gemeinschaft, einem Team gefeiert wird. Aber dieses Team kann sich nur bilden, diese Gemeinschaft kann nur entstehen, wenn sie zunächst nicht in die Weite, sondern erst in die Tiefe geht – ein Grundsatz, der wohl häufig zu wenig beachtet wird. Das Team bzw. die Gemeinschaft muss sich erst bilden, was nur gehen kann, wenn sie in die Tiefe geht. Dazu braucht sie Zeit. Statt den Verkauf der Früchte zu organisieren, müssen wir uns zunächst um die Wurzeln kümmern. Auf diesem Wege eignet sie sich die Kompetenz an, um öffentliche Gottesdienste zu feiern, in denen sie dann nicht mehr unter sich, sondern von Gästen und Besuchern des Gottesdienstes umgeben ist.

Die hier vorgetragenen zwölf (= "drei mal vier") Vorschläge dienen zur Orientierung, wie ein solcher Weg aussehen könnten. Sie zu entfalten wird Thema des nächsten Abends der Begegnung sein, dessen Termin noch nicht feststeht.

 

1. Wir üben uns im Schweigen und schaffen Raum, um Gott zu begegnen und das Gespräch mit ihm zu suchen.

 

2. Wir studieren regelmäßig die Schriften der Bibel. Sie dokumentieren die Geschichte Gottes mit den Menschen.

 

3. Wir entscheiden, ob wir unsere Taufe, Gottes Bund mit uns, annehmen und Jesus folgen.   

 

4. Wir vergewissern uns unserer Berufung: Wofür übernehmen wir Verantwortung? Welcher Mensch, welche Menschen brauchen uns? Was trägt uns? Was und wen brauchen wir?

 

5. Wir suchen das Gespräch mit denen, die wie wir das Gespräch mit Gott suchen. Wir erzählen uns gegenseitig und hören uns zu. Wir üben Gastfreundschaft.

  

6. Wir lesen gemeinsam in den biblischen Schriften. Sie erzählen auch unsere Geschichte.

 

7. Wir halten Tischgemeinschaft und feiern das Brotbrechen. So bekräftigen wir den neuen Bund.

 

8. Wir verbünden uns, beten füreinander, segnen uns gegenseitig und stärken uns den Rücken. Wir sind füreinander verlässlich.

 

9. Wir bereiten uns auf den Gottesdienst vor, indem wir bewusst vor Gott treten.

 

10. Wir prüfen, ob Gott durch die Verkündigung, zu zu uns und zur Gemeinde gesprochen hat.

 

11. Wir bekennen uns zum neuen Bund, in dem wir Brot und Wein empfangen. 

 

12. Wir lassen uns segnen und beteiligen uns daran, andere zu segnen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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