75 Jahre "Von Guten Mächten..."

Es ist jetzt ziemlich genau 75 Jahre her, dass Bonhoeffer jenes Lied niedergeschrieben hat, das heute zweifellos zu den meist gesungenen Liedern zum Jahreswechsel gehört und auch nicht nur zur Jahreswende gesungen wird.

 

Dabei war es gar nicht für das Gesangbuch bestimmt. Es war ein persönlicher Weihnachtsgruß Dietrich Bonhoeffers an seine Verlobte und an seine Familie. Es ist zugleich, wenige Wochen vor seinem Tod, seine letzte theologische Äußerung – und gewiss einer der wichtigsten.

 

Dietrich Bonhoeffer war schon sein 1943 in Haft, in einem anderen Berliner Gefängnis. Dann tauchten Dokumente auf, die in schwer belasteten und seine Beteiligung an der Verschwörung der beiden hohen Militärs Oster und Canaris gegen Hitler offenlegten. Bonhoeffer wurde im Oktober 1944 in das berüchtigte Gefängnis im Keller des Reichsicherheitshauptamtes, der GESTAPO-Zentrale in der damaligen Prinz-Albrecht-Straße in Berlin verlegt. Er musste mit seiner Hinrichtung rechnen. Zugleich aber war für jeden, der klar sehen konnte, nicht mehr anzuzweifeln, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen und das Dritte Reich dem baldigen Untergang entgegenging. Es konnte nicht mehr lange dauern. Bonhoeffer musste Angst haben und konnte Hoffnung schöpfen. Da, zwischen beidem, zwischen Angst und Hoffnung, hing er nun. Er spürte, wie sehr er am Leben hing – und er war sich voll bewusst: Es kann sehr schnell vorbei sein.

 

In den Weihnachtstagen, vor der Jahreswende 1944/45, notierte er in seinem Brief an Maria von Wedemeyer, seine Verlobte und an seine Familie, dieses Lied. Ich persönlich halte es, obwohl, wie gesagt, nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, für eine seine wichtigsten Äußerungen überhaupt und es macht deutlich, wie wichtig Bonhoeffer für uns, für die evangelische Kirche ist.

 

Gerade in seiner Gefängniszeit entwickelte Bonhoeffer Gedanken, die für das evangelische Christentum bahnbrechend waren und es bis heute eigentlich sind. Man könnte sie so zusammenfassen und sagen: Wir können den Menschen nicht mehr mit Religion kommen. Wir können ihnen nur noch religionslos begegnen. Sie sind am Diesseits orientiert, sie sind in der Wirklichkeit hier und heute zu Hause, und um ihr Leben zu führen und zu bewältigen, machen sie Gebrauch von ihrem gesunden Menschenverstand. Dazu brauchen sie keine religiösen Lehren oder Predigten, die ihnen sagen, was richtig und was falsch ist, das beurteilen sie selbst. Sie sind mündig geworden, sie haben sich von kirchlicher Autorität emanzipiert, man kann ihnen nicht mehr mit Wächteramt, Kanzelworten und Hirtenbriefen kommen. Wenn wir ihnen sagen, wie wichtig beten ist, oder in der Bibel lesen, Sünden zu bekennen, sich konfirmieren oder trauen zu lassen, zum Gottesdienst zu kommen, am Abendmahl teilzunehmen, wenn wir ihnen also mit Religion kommen, dann werden sie uns bedeuten, dass wir ihnen nichts vorzuschreiben haben und sie selber entscheiden können und müssen, was in ihrem Leben wichtig und wertvoll ist. Wir können, so Bonhoeffer, unseren Zeitgenossen nur weltlich, diesseitig, als Menschen begegnen. Wir sprechen sie nicht auf Gott an, sondern auf sie selbst als Mensch, in ihrem Menschsein. Wir wecken ihr Vertrauen, indem wir ihnen auf Augenhöhe und mit Respekt begegnen und sprechen sie auf unsere Verantwortung an, die wir als Menschen gemeinsam haben. Ja, Bonhoeffer ging sogar soweit und meinte, all das, was uns zu religiösen Menschen macht, Beten, Bibellesen, Gottesdienst, Sakramente, Verkündigung sorgfältig vor den Augen der Öffentlichkeit zu verbergen. Das geht die Öffentlichkeit nichts an, weil sie es nicht wirklich verstehen und missdeuten würde. Bonhoeffer knüpfte damit an eine Tradition der Alten Kirche an, die ihre Gottesdienste gerade nicht öffentlich feierte, vielmehr blieben die Christen dort unter sich.

 

Er entdeckte in den Gefängnisjahren das nichtreligiöse Christentum, weil es, wie er meinte, nur so den Menschen des 20. Jahrhunderts, seines Jahrhunderts, vermittelt werden könne. Das ist die eine Seite. Die andere Seite war, dass gerade die Gefängnisbriefe und gerade auch dieses Lied ihn als tiefreligiösen Menschen kennzeichnen. Er hat viel gebetet, meditiert, in und über die Bibel gelesen, gebetet. Er hat jeden Tag die Herrnhuter Losungen gelesen, die ihm wichtig waren. Er hat sich darüber mit den Seinen ausgetauscht – aber er hätte sich nie darüber in der Öffentlichkeit ausgelassen. Die geht das nichts an. Hier hat er sich im Gottvertrauen geübt – und dieses tiefe Gottvertrauen kommt in dem Lied zum Ausdruck. Er breitet vor Gott aus, wie sehr er sich nach dem Leben sehnt: „Und willst du uns noch einmal Freude schenken an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz“ – und er weiß zugleich: Es kann auch anders kommen und Gott kann das zulassen: „Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern, des Leids gefüllt bis an den höchsten Rand…“. Der Glauben braucht die Übung in solch kindlichem Vertrauen, gerade in solch schier ausweglosen Situation.

 

Wie gesagt, Bonhoeffer spricht darüber nicht öffentlich, sondern nur mit Menschen seines Vertrauens. Erst nach seinem Tod sind seine Briefe an die Öffentlichkeit gelangt. Aber gerade diese sehr privaten, sehr persönlichen Äußerungen in seinen Briefen und Meditationen und auch in diesem Lied sind zu einer Botschaft geworden. Wir brauchen uns nicht zu schämen, dass wir religiöse, fromme Menschen sind. Wir pflegen unsere Religiösität, unsere Frömmigkeit, unser geistliches Leben, weil wir so uns im Gottvertrauen üben. Aber wir begegnen unseren Zeitgenossen, wenn wir ihnen in der Öffentlichkeit begegnen, niemals religiös. Vielmehr nehmen wir sie als Menschen ernst, die mündig und für sich selbst verantwortlich sind, weil auch wir von ihnen ernst genommen werden wollen.

 

Bonhoeffer würde es nie von sich sagen – aber dieses Lied macht ihn auch zum Mystiker. Mystiker sind Menschen, die sich entschlossen dem Diesseits, der Wirklichkeit zuwenden. Aber sie wissen, dieses Diesseits, diese Wirklichkeit ist nicht in sich abgeschlossen. Es ist eingebettet in etwas Größerem, dass wir nicht kennen, aber doch ahnen: „Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet, so lass uns hören jenen vollen Klang der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet – all deine Kinder hohen Lobgesang“. So mündet dieses Lied ein in die letzte Strophe, die Siegfried Fietz leider zum Kehrvers gemacht hat, was nicht ganz stimmig ist, denn ist erst das Ziel des Liedes, in dem sich alle Hoffnung, alles Vertrauen, alle Sehnsucht und alle Gewissheit bündelt: „Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag“.

 

Text des Liedes und Erläuterung dazu bei Wikipedia

 

Außerdem lesenswert: Jürgen Henkys, Von guten Mächten treu und still umgeben, in: Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder, München 2001, Seite 452-461

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