Meditation über die Kirchenordnung (3)

 

Was wäre, wenn Beschlüsse im Presbyterium nicht mehr einmütig gefasst werden müssten?

 

Dass es wie im öffentlichen Leben auch in der Kirche Machtkämpfe, Konflikte, Rivalitäten, Kampfabstimmungen, Spaltungen und gegenseitiges Misstrauen gibt, ist offensichtlich. Die Frage ist, ob es sie auch geben darf. Anders formuliert: Ist es schlimm, wenn es in einem Leitungsgremium zu Streit kommt? Oder muss er in jedem Fall vermieden werden? Folgt man den Anweisungen der Kirchenordnung, dann ist Streit eigentlich nicht vorgesehen und es zumindest etwas anrüchig, wenn es dazu kommt. Laut Artikel 27, 106, 118, 142, 155 und 160 der Kirchenordnung sollen sich die Leitungsgremien der Rheinischen Kirche „bemühen“, ihre „Beschlüsse einmütig zu fassen“. Was jedoch „einmütig“ ist bzw. wann eine Entscheidung einmütig getroffen wurde und wann nicht, lässt sich nicht exakt beschreiben, abgesehen davon, dass die Beschlüsse in dieser Weise nur gefasst werden sollen. Wenn aber eine genaue Beschreibung dessen, was gemeint ist, nicht möglich ist, warum steht diese Bestimmung gleich sechsmal in der Kirchenordnung? Der schon genannte „Leitfaden zur Vorbereitung und Durchführung von Sitzungen im Kirchenvorstand“ versucht, diese Frage zu klären. Böhlemann schreibt zunächst: „Es bedeutet…, dass alle Mitglieder zu den gemeinsamen getroffenen Beschlüssen stehen, unabhängig davon, wie sie persönlich abgestimmt haben“[1]. Ein solches Verhalten ist für demokratische Entscheidungsprozesse selbstverständlich – dafür wie auch für die später folgenden Ratschläge für eine gute Beschlussvorbereitung wird die Einmütigkeitsforderung nicht benötigt. Aber im nächsten Satz wird die Katze aus dem Sack gelassen: „Es bedeutet auch, dass abweichende Meinungen oder interne Auseinandersetzungen nicht an Dritte weitergegeben werden.“ Mit anderen Worten: Wer bei einem Beschluss des Presbyteriums, der in der Regel nicht in geheimer Abstimmung erfolgt (Artikel 27(3)), dagegen gestimmt hat, der hat gefälligst über seine abweichende Meinung für immer zu schweigen. Gab es interne Auseinandersetzungen, darf davon unter keinen Umständen etwas nach außen dringen. Fliegen also in der Sitzung die Fetzen, soll das Presbyterium nach außen so tun, als wären alle Beschlüsse in großer Einigkeit getroffen worden, unabhängig davon, wie es wirklich war. Wenn das wirklich mit „Einmütigkeit“ gemeint sein sollte, dann ist die Heuchelei in der Kirchenordnung gewissermaßen vorprogrammiert.

 

Das Schlüsselproblem liegt darin, dass auch hier die Ebenen vermischt werden. Die Einmütigkeitsforderung wird nicht in der Sprache des Rechtstextes, sondern als moralischer Appell formuliert. Rechtlich ist nicht überprüfbar, ob die Einmütigkeit gegeben ist oder nicht. Das hat zur Folge, dass die Auseinandersetzung von der Sachebene auf die Beziehungsebene verlagert wird, also nicht mehr sachlich, sondern emotional geführt wird. Statt eine wenn auch umstrittene Sachentscheidung zu treffen, steht plötzlich der ein- oder gegenseitige Vorwurf ausgesprochen oder unausgesprochen im Raum, die Einmütigkeit zu verletzen: Wer dagegen ist, verstößt gegen die Einmütigkeit. Wenn dann über die so entstandene Situation nach außen auch noch Stillschweigen gewahrt werden soll – und es ist in aller Regel zu erwarten, dass gerade das nicht geschieht – dann wird der Konflikt, statt ihn zu entscheiden, dauerhaft verfestigt. Die Tendenz einen Streit zu vermeiden, statt zu entscheiden und damit für lange Zeit schwelen zu lassen, ist in kirchlichen Kreisen ausgeprägt, was von vielen bestätigt würden dürfte. Die Folge davon sind die vielen, fast schon vertrauten, über lange Zeiten hinweg ungelösten und verhärteten Konflikte, die oft erst mit der räumlichen Trennung der handelnden Personen und dem Abbruch der Kommunikation im Sande verlaufen.

 

Der Stärke von Demokratie ist nicht, den Streit zu vermeiden, sondern ihn zu klären und zu entscheiden. Dass allzumal gestritten wird, ist dabei als Normalzustand vorauszusetzen. Dabei wird es immer wieder Sieger und Verlierer geben. Streit, Auseinandersetzungen, auch Machtkämpfe und Kampfentscheidungen dürfen sein – auch in der Kirche. Es muss die Möglichkeit geben, sich ggf. „durchzusetzen“, was voraussetzt, dass man den Machtkampf auch verlieren kann und sich dann damit abfinden muss. Es muss auch möglich sein, den Streit in der Gemeindeöffentlichkeit auszutragen, denn die hat schlicht einen Anspruch darauf, zu erfahren, was im Leitungsgremium oder zwischen anderen handelnden Personen umstritten ist. Oft können nur so längst fällige Änderungsprozesse in der Kirche in Gang gesetzt werden. Die kirchliche Neigung, über gerade herrschende Konflikte den Mantel des Schweigens zu werfen, sorgt für die im Raum der Kirche oft anzutreffende, sich auf alles wie Mehltau legende Atmosphäre verborgenen Misstrauens.

Fazit

Wenn man Gisela Kittels Überlegungen zu „Anrufung des Namen Gottes inmitten einer gottvergessenen Welt“ in diesem Heft[2] in die Betrachtung mit einbezieht, könnte man es so formulieren: Erst wird dem Pfarrpersonal die Gemeinde- und Kirchenleitung aufgedrückt und man lässt Leute Entscheidungen treffen, für die sie niemand gewählt hat. Das wird sorgfältig vor der Öffentlichkeit abgeschirmt und man sorgt vergeblich dafür, dass von den drinnen schwelenden Konflikten nichts nach außen dringt und tut so, als würde alles einmütig ablaufen, was einem natürlich niemand abnimmt. Dann wundert man sich, dass die öffentlichen Sonntagsgottesdienste so schlecht besucht sind und stellt schließlich fest, dass sie sich für die paar Leute nicht mehr lohnen. Man hofft, die Kirche damit retten zu können, indem man meint, sie an den Gemeinden vorbei und – durchaus im Doppelsinn des Wortes – von oben herab durch allerhand zielgruppenorientierte Gottesdienste ersetzen zu können.

Wir müssen entscheiden und wissen, wo wir hinwollen und dann diesen Weg Stück für Stück konsequent gehen. Sonst kommen wir aus der beschriebenen Sackgasse nicht mehr raus. Entscheidend dafür wird sein, die Hoheit und Unabhängigkeit der Ortsgemeinde zu gewährleisten. Das ist die Voraussetzung dafür, dass sich Menschen mit Kompetenzen, Ambitionen und Herzblut mit ihr identifizieren und dafür interessieren, Verantwortung zu übernehmen und etwas bewirken zu wollen – und auch dafür, dass die Motivation, sie zu wählen, deutlich zunimmt. Das wird die Gemeinden einem tiefgreifenden, aber unvermeidlichen Wandel aussetzen. Sie dürfen nicht länger die von oben gesteuerten Unterabteilungen der Kirchenkreise sein. Es stellt sich die Frage, ob die Definition einer Gemeinde durch eine Region oder durch territoriale Grenzen noch zeitgemäß ist und ob sie sich nicht besser statt auf ein Gebiet auf den Ort bezieht, an dem sie ihre Gottesdienste feiert. Es ergibt keinen Sinn, die Mitgliedschaft in einer Gemeinde - in der Regel - vom Wohnsitz abhängig zu machen statt von der eigenen Entscheidung, dieser Gemeinde angehören zu wollen. Gemeinden müssen sich selber gründen oder auflösen, vereinigen oder aufspalten, miteinander kooperieren oder auch konkurrieren können. Die übergeordneten Leitungsebenen haben kein Recht, sich in solche Entscheidungen einzumischen, sie haben lediglich beratende, aufsichtliche, konfliktregulierende und repräsentative Funktion.

 

(Zurück zur ersten Seite)

 


[1] A. a. O., 11 (auch folgendes Zitat)

[2] im Infobrief des Ev. Pfarrvereins 28/2020, Seite 35 bis 40

Kommentar schreiben

Kommentare: 0