Paradigmenwechsel (4)

Wenn die "Pioniere des Paradigmenwechsels" sich reihum zum Abendessen treffen, dann wird aus dem Abendessen durch das Ritual des Brotbrechens ein Gottesdienst. Zu ihm gehört aber noch mehr, denn wie jeder Gottesdienst besteht auch dieser aus Namen, Wort, Bund und Segen, also aus der Anrufung, der Verkündigung, dem Brotbrechen und dem Segen. Im Blick auf die Anrufung Gottes haben sie sich eine kleine Liturgie gegeben. Sie beginnen mit einem Psalm, z. B. dem Wochenpsalm aus dem Perikopenbuch, den zunächst einer liest. Dann entsteht eine Stille zur Betrachtung des Psalms. Im nächsten Schritt kann, wer möchte, einen Vers oder eine Formulierung des Psalms laut aussprechen, vielleicht ein- oder zweimal, und mit eigenen Worten ergänzen. Der Gastgeber schließt den Psalm mit dem "Ehre sei dem Vater..." ab. Auch das Brotbrechen wird manchmal mit einer kleinen einleitenden Liturgie, dem Vaterunser und eine kleinen Gebetszeit verbunden. Manchmal werden auch Lieder gesungen, das aber nur, wenn es gut geht, ggf. ein Instrument da ist und das Singen Spaß macht.

 

Im Zentrum des Abends steht, während sie essen und trinken, das gemeinsame, gegenseitige Erzählen. Dazu wird ein biblischer Text gelesen, etwa der Predigttext des vorhergehenden oder folgenden Sonntags. Ein oder mehrere Gruppenmitglieder haben ihn erarbeitet und Informationen dazu gesammelt. Unter Einsatz von Phantasie wird erörtert, welche Geschichte hinter dem jeweiligen Abschnitt steht. Sie kann schnell zum Bild für die eigene, selbst erlebte Geschichte werden. Das Erzählen sowohl der biblischen wie der eigenen Geschichte(n) geht ineinander über und ist ein zentrales Element des christlichen Glaubens, das so nur im persönlichen Gespräch einer Gruppe möglich ist, nicht aber in öffentlichen Gottesdiensten. Aus "meiner" und "deiner" und die biblischen Geschichten setzt sich "seine" Geschichte, die große, durch die Heilige Schrift dokumentierte Geschichte zusammen. Sie wird durch das Erzählen vergegenwärtigt und ereignet sich hier und jetzt. Wichtig ist nur, dass alles, was erzählt wird, "im Raum" bleibt und alle anwesenden Gruppenmitglieder zur Verschwiegenheit verpflichtet sind. Außerdem entscheidet jedes Gruppenmitglied selbst, was es von sich erzählt und was nicht. Durch das gegenseitige Erzählen wachsen Beziehungen und Vertrauen. Gemeinschaft entsteht dadurch, dass man sich mit ihr identifiziert.

 

Es kann durchaus geschehen, dass die Geschichte eines einzelnen Mitglieds im Mittelpunkt steht, weil es sich in einer besonderen Situation befindet, an der Schwelle eines neuen Lebensabschnitt, in einer Krisensituation oder vor besonderen Herausforderungen. Durch Erzählen und Zuhören nimmt die Gruppe an seiner Geschichte Anteil, aber auch, indem sie für es betet.

 

Das Ritual der "Rückenstärkung" bietet sich an, um es zu segnen; wir sind es ja ohnehin gewohnt, jemandem, dem wir unsere Solidarität oder ihren Beistand kund tun wollen, die Hand auf die Schulter zu legen. Zwei oder drei stehen hinter der Person und segnen ihn, in dem sie ihre Hand auf seine Schulter oder den Rücken legen, um ihm den "Rücken zu stärken". Die Gemeinschaft am Tisch des Herrn verbindet nicht nur mit Jesus, sondern auch untereinander. Sie teilen miteinander ihren Glauben, wie sie das Brot miteinander teilen.

 

Wenn der Gottesdienst nur als öffentlicher Gottesdienst gefeiert wird, geht die Tischgemeinschaft verloren, die durch ihn nicht ersetzt werden kann. Die Tischgemeinschaft ist ein zentrales und unverzichtbares Element kirchlichen Lebens. Sie schafft die persönlichen Beziehungen, ohne die keine Gemeinde wirklich auf Dauer lebensfähig ist. Entweder ist die Gemeinde ein Netzwerk persönlicher Beziehungen oder sie ist nicht wirklich Gemeinde. Zugehörigkeit zeichnet sich durch die Einbindung in eben jenes Netz aus. Wachstum und Leben einer Gemeinde hängt davon entscheidend ab. Die Mitglieder einer Gemeinde sind Tischgenossen. Nicht jeder kann jeden gut kennen, nicht zwischen allen können gute Beziehungen wachsen. Aber wer eine Gemeinde angehört, ist in ein Netz von Beziehungen eingebunden, das die Qualität von Gemeindeleben ausmacht. Die Tischgemeinschaft ist der Ort, an dem solche Beziehungen entstehen und reifen können. Insofern kann der öffentliche Gottesdienst die Tischgemeinschaft nicht ersetzen, aber umgekehrt kann die Tischgemeinschaft auch nicht an die Stelle des öffentlichen Gottesdienstes treten. Beides hat seinen Ort in der Kirche und beides ist unverzichtbar. In geistlich trockenen Zeiten kann es passieren, dass es nur den öffentlichen Gottesdienst gibt, in Verfolgungszeiten ist es möglich, dass die Kirche sich nur außerhalb der Öffentlichkeit, im Verborgenen, in der Tischgemeinschaft ereignen kann. Aber das Ziel muss sein, dass beides geschieht.

 

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