Mitten in dieser in ihrer Existenz gefährdeten und durch Menschenhand schwer beschädigten Welt, mitten unter vom Scheitern geprägten oder bedrohten Menschen, zu denen sie sich selbst auch zählen, behaupten die Pioniere des Paradigmenwechsels, nicht nur sie selbst, sondern die ganze Welt, die ganze Menschheit sei gerettet und der Schöpfer habe sich mit ihr versöhnt und lebe im Frieden mit ihr.
Auf eine solche Idee kann ein Mensch nicht von sich aus kommen. Irgendeine Erkenntnis, Lehre oder Philosophie über den Menschen oder über die Welt ist nicht denkbar, von der sich das ableiten und mit der sich das begründen ließe. Dazu bedarf einer Geschichte, die sich wirklich ereignet hat. Sie hat ihre Spuren hinterlassen, indem sie - von vielen Menschen zu unterscheidlichen Zeiten in unterschiedlichen Situation und auf vielfältige Weise - aufgeschrieben ist. Diese über die Jahrtausende entstandenen Schriften sind in der Bibel gesammelt und überliefert worden. Wichtig ist, dass durch sie tatsächlich geschehene Geschichte dokumentiert wird. Sie schlägt sich im geschriebenen und gelesenen Wort nieder. Auf sie berufen sie sich, wenn sie von der Versöhnung und vom Frieden zwischen Gott und sich bzw. der Welt sprechen.
Das Herzstück aller evangelischen Spiritualität ist daher das Lesen. Es lässt sich mit der Meditation vergleichen und ist das auch im eigentlich Sinne. Das langsame, beständige, ausdauernde, geduldige "Auflesen" von Buchstaben, Worten, Sätzen, die sich darüber zu Sinnzusammenhängen, Bildern, Vorstellungen, Erzählungen und Geschichten entfalten und verdichten, vergegenwärtigen diese Geschichte. Sie lässt sie selbst daran teilhaben, sie kommen selbst drin vor, die Geschichte wird zu ihrer eigenen Geschichte, die sich im Hier und Jetzt abspielt. Der Geist, die Atmosphäre, die Ausstrahlung, die in der Geschichte geherrscht hat, überträgt sich auf die Gegenwart. Gespräch, Verkündigung, Theologie, Lehre, Erzählung, Literatur und anderes mehr, all das, was an das Lesen anknüpft, gäbe es ohne dasselbe nicht. Es ist nicht verwunderlich, dass die Reformation auch ein ein literarisches Zeitalter ermöglicht hat, und dass die Evangelische Kirche, die Kirche des Wortes, besonders im belesenen und gebildeten Bürgertum beheimatet ist.
Die Pioniere des Paradigmenwechsel nehmen sich daher für das Lesen - vornehmlich, aber keineswegs nur - der biblischen Schriften viel Zeit, und sie lassen sich Zeit. Sie lesen bewusst, langsam und ohne sich ablenken zu lassen. Je nach dem, was sie lesen, kann das Gelesene eine Eigendynamik entwickeln und den oder die Lesenden mitnehmen oder mitreißen. Das richtige Lesen, gerade auch von Büchern und langen, zusammenhängenden Texten, auch darin der Meditation ähnlich, hat sammelnde und konzentrierende, bildende (also: Bilder schaffende) und Gelassenheit hervorrufende Wirkung und kann man als eine Art Kontemplation auffassen (was nicht ausschließt, dass es für sie auch andere Formen der Kontemplation und der Meditation gibt, aber für sie sind sie in der Form des Lesens von Bedeutung). Es mündet immer wieder ins eigene Schreiben, ins Gespräch, ins gegenseitige Erzählen und Zuhören.
Diese Weise des Lesens, als meditativer oder kontemplativer Vorgang verstanden, erfordert Übung, Ausdauer und Geduld. Lesen ist nicht einfach, was wir den ganzen Tag tun, das Aufnehmen von einer Überfülle geschriebener Informationen, sondern erfordert Zuwendung, Aufmerksamkeit sowie eine ungestörte und ablenkungsfreie Umgebung. Dabei kehren sie immer wieder zu den biblischen Schriften zurück, in denen sie täglich und nach einer festen Ordnung lesen.
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