Gelegentlich wird die Vermutung geäußert, dass die Menschen - Pfarrerinnen und Pfarrer eingeschlossen - in den Kirchengemeinden und die Mitarbeitenden in der EKD und rund um das Kirchenamt in Hannover in verschiedenen Welten leben, die kaum etwas miteinander zu tun haben und dass zwischen ihnen Sprachlosigkeit herrscht.
Hier möchte ich zwei Texte nebeneinander stellen, die diesen Eindruck unterstreichen. Der erste stammt aus dem Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD und trägt den Titel "Multiprofessionalität und mehr", Verfasser ist Dr. Gunther Schendel, Pastor und wissenschaftlicher Referent des Instituts. Gegenstand dieser Untersuchung sind multiprofessionelle Teams, worunter die unterschiedlich intensive "Teamarbeit von Fachkräften aus mehreren Teams" (1) verstanden wird. Im kirchlichen Zusammenhang geht es dabei vor allem um die Einbettung des Pfarrberufs in eine solche multiprofessionelle Zusammenarbeit, wie sie im Rheinland schon seit längerem im "Gemeinsamen pastoralen Amt" angestrebt wird, wofür es allerdings erst elf Beispiele gibt (9). Das Ziel ist dabei die "konziliare Bündelung der Vielfalt von Kompetenzen", um dem "Kontext einer differenzierten und hoch spezialisierten Gesellschaft" (7, z. n. Ruddat 2005, Seitenangeben siehe Dokument und das Lit.-Verzeichnis an dessen Ende) gerecht zu werden. Der Hintergrund ist die "Komplexität moderner Systeme", deren Kennzeichen die "Multiplikation von Perspektiven" bei "gleichzeitiger Wechselwirkung unterschiedlicher Faktoren, die an die Stelle der seriellen Kausalität tritt" (6, z. n. Nassehi 2019). Erreicht werden soll mit einem solchen "Netzwerk", das seine Aufgaben "iterativ-zirkulär" bearbeitet, dass das "Einzelkämpfertum des Parochialmodells" und ein "funktionales Spezialistentum" verabschiedet wird (6, z. n. Schramm 2015) und dass "Zielgruppenorientierung und Menschennähe optimal mit den dafür vorhandenen Kompetenzen verbunden werden können" (1, Bedford-Strohm 2017).
Was wir nicht erfahren ist, wie sich eine solche Multiprofessionaliät auf die Gestaltung des Pfarrberufs selbst auswirkt. Welche Kompetenzen übertragen Pfarrerin oder Pfarrer auf andere Mitglieder des Teams, welche Kompetenzen von anderen nehmen sie dafür selbst wahr? Inwieweit werden die anderen Teammitglieder am Dienst an Wort und Sakrament, an Unterricht und Seelsorge, an theologischer Reflexion und spiritueller Praxis beteiligt und welche nicht ans Pfarramt gebundenen Tätigkeiten nehmen Pfarrerin oder Pfarrer wahr? Ebenso erfahren wir nicht, wie sich diese Multiprofessionalität (oder auch Inter- bzw. Transprofessionalität) von der Tatsache unterscheidet, dass Pfarrerin oder Pfarrer bisher schon in aller Regel Teil eines Teams der Mitarbeitenden in der Gemeinde sind. Angedeutet wird neben dem schon erwähnten Abschied vom Einzelkämpfertum ein angestrebter Hierarchie-Verzicht im im Sinne von Barmen IV (8, 10, 24); es bleibt aber unklar, wie dann Verantwortung und Kompetenzen innerhalb eines solchen multiprofessionellen Teams verteilt sind. Die Notwendigkeit, "Pfarrpersonen von der aktuellen Aufgabenfülle zu entlasten" oder die Anmahnung einer "verbesserten Assistenz im Pfarrbüro und anderer Verwaltungsentlastungen", damit sie "zusätzlich Zeit für den Einsatz in der Seelsorge" frei halten kann, ist ein generelles Thema und gewiss nicht der Anlass, über Multiprofessionalität nachzudenken.
Im Folgenden werden mehrere Konzepte aus verschiedenen Landeskirchen vorgestellt. Es zeigt sich aber, dass sie so unterschiedlich sind, dass schwerlich allgemeine Schlussfolgerungen daraus gezogen werden können. Außerdem sind sie bisher nur so sporadisch umgesetzt, dass ihre sozialwissenschaftliche Auswertung gar nicht möglich ist, was der Autor auch freimütig, wenn auch in einer Fußnote einräumt (17, Anm. 30: "Der Outcome bzw. Impact multiprofessioneller Teams im Bereich der Kirche wurde offensichtlich bislang nicht untersucht.").
Die Webseite des Instituts erweckt gleichwohl den Eindruck, multikulturelle Teams seien auch für die Kirche "attraktiv und zeitgemäß", und sie seien "von großer Bedeutung sowohl für konkrete Entwicklungs- und Veränderungsprozesse in der kirchlichen Praxis vor Ort wie für die organisationslogische Reflexion der Kirchenentwicklung angesichts der aktuellen Herausforderungen". Empirisch belegt wird das in dem hier vorgestellten Bericht in keiner Weise. Dies an sich ist für mich auch nicht so interessant, da mich die Frage nach multiprofessionellen Teams in der Kirche bisher kaum interessiert hat.
Was mich an diesem Artikel stutzig gemacht hat, ist etwas anderes. In ihm wird nämlich auf einen Artikel verwiesen, der für mich und andere meiner EKD-kritischen Freunde ein wichtiger Impuls ist: Es handelt sich um den vor wenigen Monaten erschienenen Artikel "Die Anrufung des Namens Gottes in einer gottvergessenen Welt" von Gisela Kittel.
Anlass dieses Artikels ist die von ihr beobachtete "Missachtung des Gottesdienstes": "Seit den Anfängen der Christenheit geschieht die Anrufung des in Jesus Christus nahe gekommenen Gottes am ersten Tag der jüdischen Woche, unserem Sonntag... Doch nun stehen wir vor der absurden Situation, dass dieser ausgezeichnete Ort christlichen Bekennens, da die transzendente Wirklichkeit des dreieinigen Gottes hineinragt in die sich selbst genügende Welt, kaum noch geachtet wird... Und weil die gottesdienstlich sich versammelnde Gemeinde immer kleiner wird, haben dann auch die zuständigen Pfarrpersonen – salopp gesagt – keine Lust mehr. Es scheint sich nicht zu lohnen, nur für einige wenige einen Gottesdienst mit Predigt und Orgelklang vorzubereiten." Da es ja nur noch zwei oder drei sind, die zusammenkommen, "lege man die Feiern doch einfach zusammen... Die Menschen sollen und wollen doch in einer größeren Gemeinschaft Gottesdienste feiern, die leeren Kirchenräume würden nur bedrücken und die jetzt so verringerten Feiern könnten eben darum „kompetenter“ gestaltet werden... Das Zusammenlegen von Gottesdiensten und anderen Gemeindeaktivitäten soll einen frischen Wind in vermeintlich nur auf sich selbst bezogene Gemeinden bringen... Doch Menschen aus den anderen Gemeinden, deren Kirchentüren nun geschlossen sind, bleiben weg. Noch mehr: auch die bisher noch den Gottesdienst suchende Gemeinde lernt, dass es auf den sonntäglichen Gottesdienst gar nicht so ankommt." Unbemerkt verschiebt sich der Sinn des Gottesdienstes: Dass er der Ort ist, an dem "die geheimnisvolle Wirklichkeit Gottes und der vertraute Alltag der Welt' miteinander in Kontakt treten" (Annette Kurschus), tritt zu Gunsten des Event-Charakters und der Gemeinschaftserfahrung in den Hintergrund.
Das ist der Grund, warum "man nicht, wie es im gegenwärtigen Reformprozess geschieht, die Gemeindegrößen ins Unüberschaubare zerdehnen, Gemeinden in Großgebilde hinein verschwinden lassen, Gottesdienste einstellen, an die Stelle gemeindenaher Personen, die ihren Dienst in der ihnen bekannten Gemeinschaft tun, multiprofessionelle Teams setzen, die ihre Fachleute je nach Nachfrage herumschicken" kann. "Nicht die Zahl, wie viele Gemeindeglieder sich zum sonntäglichen Gottesdienst versammeln, kann und darf darüber entscheiden, ob der Gottesdienst am Sonntag zurückgedrängt, durch Zielgruppen-orientierte oder Anlass-bezogene Gottesdienste ersetzt oder ganz abgeschafft wird. Nicht die zurückgehende Zahl nachwachsender Theologen, nicht die Prognose abnehmender Kirchensteuermittel oder ihr tatsächliches Schwinden kann den Grund liefern, um kirchliche Gemeinden mit ihrer oft lebendigen Gemeindearbeit in Großgebilden aufgehen, ihr Gemeindeleben veröden zu lassen."
Schendel verweist auf diesen Artikel und schreibt: "Auch wenn sie immer noch Gegenwehr auslöst, scheint 'übergemeindliche Vernetzung' (Bedford-Strohm) jetzt realistischer als damals." (5) Das heißt zwischen den Zeilen gelesen: Zwar gibt es, wie von Gisela Kittel zum Ausdruck gebracht, noch Gegenwehr gegenüber den Großgebilden bzw. der übergemeindlichen Vernetzung. Aber das wird sich von selbst erledigen. Wir brauchen darauf keine Rücksicht mehr zu nehmen. Die Richtung ist klar. Wir halten Kurs und alles andere interessiert uns nicht.
Es ist diese, mit Verlaub, unerschütterliche und über jeden Zweifel erhabene Selbstgewissheit der EKD-Leute gegenüber uns, die wir uns in den Gemeinden abarbeiten, die so verletzend ist. In dieses Bild passt hinein, dass in den "Elf Leitsätzen" von Pfarrerinnen und Pfarrern gar nicht mehr die Rede ist und von den Ortsgemeinden nur noch als Auslaufmodell. In das Bild passt auch, dass es zu den "Elf Leitsätzen" ein Fülle von Stimmern heftiger Kritik gibt, während Stimmen, die sie in Schutz nehmen, praktisch nicht zu hören sind. Bis auf ein verunglücktes Interview mit dem Ratsvorsitzenden im "Zeitzeichen" reagiert kein EKD-Mensch darauf. Warum kommt kein öffentliches Gespräch darüber zustande? Warum können wir nicht drüber reden? Warum hört uns keiner zu? Wir würden gerne mal jemanden hören, der sich mit dem Kurs der EKD und den "Elf Leitsätzen" wirklich identifiziert und dafür kämpft und uns zu überzeugen versucht. Und wir würden gerne mal erleben, dass jemand auf der oberen Leitungsebene uns zuhört und unsere Wut aushält. Aber so, wie es jetzt läuft, wird das alles klammheimlich und stillschweigend umgesetzt. Und wir reden aneinander vorbei.
Es kommt ja noch was dazu: In dem Artikel von Schendel kommen die Laien, diejenigen, die das Priestertum der Gläubigen ausüben (sollen), überhaupt nicht in den Blick. Lediglich ein paar Semi-Profis wie Prädikantinnen oder Telefonseelsorger werden am Rande erwähnt für den Fall, dass sie Teil von multiprofessionellen Teams sein könnten. Die Folge davon ist ist, dass auch die Gemeindeglieder nicht oder lediglich als "Fälle" oder als Dienstleistungs-Kunden wahr- und ernstgenommen werden. Es wird die Gleichgültigkeit ihnen gegen über sein, die viele in die Gleichgültigkeit gegenüber der Kirche treiben wird. Darum lasse ich Gisela Kittel noch einmal zu Wort kommen:
"Es geht um die Sammlung derer, die auch in der säkularen Welt Christen sein und bleiben wollen. Sie dürfen in einer Kirche, die sich heute so eifrig den Kirchenfernen und Distanzierten zuwenden will, nicht im Stich gelassen, sondern müssen ermutigt werden, ihrem Glauben treu zu bleiben. Sie sind angewiesen auf Menschen, die mit ihnen gemeinsam auf dem Weg sind. Dringend notwendig ist weiter die theologische und geistliche Zurüstung. Glieder der Gemeinde sollen wissen, warum sie Christen sind und was Christsein in der heutigen Zeit bedeutet. Und das nicht nur für sich selbst. Sie müssen heute mehr denn je auskunftsfähig sein, so dass sie, angefragt oder von anderer Seite herausgefordert, nicht verstummen, sondern sagen können, was ihnen der christliche Glaube bedeutet und was sein Kern ihrer Erkenntnis nach ist."
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Friedhelm Maurer (Donnerstag, 01 Oktober 2020 14:25)
Sehr gut auf den Punkt gebracht!