Wagenburgmentalität und evangelischer Zentralismus

Wir haben uns gefragt, ob es angesichts der vielen und scharfen kritischen Kommentare zu den "Elf Leitsätzen" auch mal eine Stimme gibt, die sich mit Ihnen identifiziert und sie ausdrücklich befürwortet. Nun gibt es sie mit diesem Kommentar von Arnulf von Scheliha im "zeitzeichen" tatsächlich - und nicht nur das. Erfreulicherweise wird auch sichtbar, wo Kritiker und Fürsprecher dieses Papieres aneinander anknüpfen können und miteinander weiterdenken können. Gegen Ende des Papieres lesen wir, dass "nicht nur die Kirchenleitungen gefragt" sind. "Vielmehr wird es zunehmend auf die Verantwortung des allgemeinen Priestertums der Getauften ankommen."

 

Das dürfte in der Tat im Zentrum des gemeinsamen Interesses stehen. Ohne die "Verantwortung des allgemeinen Priestertums der Getauften" hat die evangelische Kirche keine Existenzberechtigung und könnte sie nicht funktionieren. Darüber werden sich alle an diesem Diskurs Beteiligten einig sein.

 

Eng verbunden mit dem allgemeinen Priestertum der Getauften ist die "Freiheit eines Christenmenschen", auf die der Autor ebenso zu sprechen kommt. Sie hat nach Martin Luther zwei Seiten, nämlich zum einen die Freiheit über alle Dinge, die niemandem untertan ist und zum anderen die Dienstbarkeit - wir würden heute Verantwortung sagen -, die allen untertan ist. Führt man diese beiden Seiten der christlichen Freiheit in einem Begriff zusammen, stoßen wir auf die Mündigkeit.

 

Mündig werden Zeitgenossen jedoch nicht schon, indem man sie lediglich für mündig erklärt. Damit die Getauften von ihrem Priestertum, die Christenmenschen von ihrer Freiheit und die Zeitgenossen von ihrer Mündigkeit Gebrauch machen können, ist Bildung, eingeübte Spiritualität und verbindliche Gemeinschaft erforderlich. Unbestritten gibt es in den Elf Leitsätzen Passagen, die darauf hindeuten: "Zukünftig werden Initiativen gefördert, die Mitarbeitende im Blick auf den gemeinsamen evangelischen Glauben zu einem authentischen Handeln befähigen und ihre Sprachfähigkeit befördern... Das Prinzip der Dienstgemeinschaft lebt von wechselseitiger Fürsorge und Verantwortung, die unter den Leitbegriffen der Befähigung und der Wertschätzung konkrete Gestalt in der Gemeinschaft aller Mitarbeitenden gewinnen müssen. Mitarbeitende benötigen geistliche und gemeinschaftliche Räume, in denen dies erlebbar wird" (8. Leitsatz). Bisher hierhin wird es niemanden geben, der solche Sätze nicht unterschreiben könnte.

 

Aber dann stoßen wir auf das zentrale Problem der Elf Leitsätze: "Das Angebot qualitativ hochwertiger Fortbildungsprogramme zählt zu den wichtigsten Aufgaben der zentralen Kirchenverwaltung." Was heißt "qualitativ hochwertig" (was wohl elitär gemeint ist), wieso handelt es sich hier um "Fortbildungsprogramme" (statt einfach von Bildung zu sprechen), und warum wird sie gewissermaßen auf der obersten Ebene, nämlich bei der "zentralen Kirchenverwaltung" angesiedelt? Hier wäre die Gelegenheit gewesen, die Rolle des Pfarramtes anzusprechen, weil es maßgeblich die Verantwortung für die Befähigung zu Freiheit, Mündigkeit und Priestertum trägt. Pfarrerinnen und Pfarrer kommen nicht vor und diese Leerstelle wird mit der “zentralen Kirchenverwaltung“ aufgefüllt. Dass auf diese Weise “mit der Freiheit eines Christenmenschen ekklesiologisch ernst" gemacht würde, ist eine Behauptung, die sich zumindest nicht gerade aufdrängt. Wer sie nicht nachvollziehen kann, will damit keine “Pastorinnen- und Pastorenkirche“ in den Vordergrund schieben.

 

Was uns, ebenso wie die genannten akademischen Autoren - in der Tat - “auf die Bremse treten“ lässt, ist keine “Wagenburgmentalität“. Alle Beteiligten wissen doch, dass die Evangelische Kirche, so oder so, vor einem tiefgreifenden Wandel steht. Es ist vielmehr die Rede von jener zentralen Kirchenverwaltung, die das Entsetzen auslöst. Der evangelische Zentralismus ist ein schon seit vielen Jahren zu beobachtendes Phänomen. Alle wichtigen strategischen Entscheidungen wie die Kirchenschließungen, Stellenstreichungen oder Gemeindefusionen werden auf Druck von oben auf den synodalen, kirchkreislichen oder Dekanats-Ebenen getroffen. Die Gemeinden können mit ihren Kirchenvorständen und Presbyterien diese bereits getroffenen Entscheidungen nur noch nachvollziehen und ausführen. Die Gemeinden sind nicht inzwischen nicht mehr als Unterabteilungen ihres jeweiligen Kirchenkreises und nicht mehr selbständig handlungsfähig. Die Elf Leitsätze setzen stillschweigend den Ausbau dieses evangelischen Zentralismus voraus. Alle, die ihm in die Quere kommen könnten, werden vorsorglich eingeschüchtert. Die "Beharrungskräfte", die "eingehegt" werden müssen, sind schon zu einer stehenden Redewendung geworden. Der Satz: "Unverbunden agierende, selbstbezügliche Institutionen und Arbeitsbereiche auf allen kirchlichen Ebenen werden aufgegeben" darf als Warnung an alle verstanden werden, die da nicht mitziehen, was zur Frage berechtigt, wo sich tatsächlich eine Wagenburg auszumachen lässt. Der Bedarf "eines gemeinsamen Leitungswillens... sowohl ebenenübergreifend in der Vertikalen wie auch im Zusammenwirken unterschiedlicher Handlungsfelder und Akteure" (9. Leitsatz) unterstreicht das, denn "angesichts der Wucht der anstehenden Aufgaben können Entscheidungen nicht dem Selbsterhaltungsinteresse von Teilbereichen dienen" (ebd.).

 

Die Elf Leitsätze selbst deuten an, dass es zu diesem Evangelischen Zentralismus auch Alternativen gibt: "Die traditionell stärkeren und wohlhabenderen evangelischen Kirchen im ehemaligen Westdeutschland (können) von den Kirchen in Ostdeutschland lernen: Kleinere Versammlungen um Wort und Sakrament bedeuten weder Mut- noch Sinnlosigkeit, sie entlasten auch von erstarrten Routinen und eröffnen die Chance, Neues auszuprobieren" (10. Leitsatz). Das aber dürfte nur bei konsequentem Verzicht auf jeglichen Zentralismus möglich sein. Dass es auch so gehen könnte, möchte ich hier gerne skizzieren:

 

- Statt Gemeinden zu Fusionen und zur Bildung von Kirchen-Regionen zu nötigen sollten möglichst kleine Ortsgemeinden angestrebt werden. Nach biblischer Auffassung dürfen sie nicht größer sein, als dass sie in der Lage sind, stabile Netzwerke persönlicher Beziehungen zu bilden. So aber werden sie zu riesigen, anonymen Großorganisationen statt, mit erhöhtem administrativem Aufwand für eine behördenanaloge "Mitgliederbetreuung". Die Kommunikation des Evangeliums findet zuerst und vor allem auf der Ebene der persönlichen Begegnung statt. Sie lässt sich nicht auf die Ebene der Medien übertragen. Diese können die persönliche Begegnung nur ergänzen, nicht ersetzen. Nicht jede Gemeinde muss ein eigenes Pfarramt haben. Pfarrerinnen und Pfarrer können gut auch mehrere Gemeinden betreuen, und sie werden ja auch nicht immer gebraucht.

 

- Statt Verwaltungen immer mehr zu zusammenzulegen und zu zentralisieren, lasst die Gemeinden für sich selbst Verantwortung übernehmen. Sie sollten eigentlich entlastet werden, indem man ihr die Aufgabe der Verwaltung abnimmt. Aber das Gegenteil ist eingetreten. Durch den notwendig gewordenen Bedarf an Abstimmung, Vereinbarung und Kommunikation ist der Verwaltungsaufwand deutlich erhöht. Statt dass die Verwaltungen den Gemeinden dienen, arbeiten diese ihr immer mehr zu und sind gezwungen, sich unter immer größer (und teurere) Verwaltungssysteme unterzuordnen. Die Freiheit der Gemeinde wird durch Systemzwänge ersetzt. Und Selbstverwaltung ist wahrscheinlich immer noch die preiswerteste Form von Verwaltung.

 

- Statt die Mitglieder wie Kunden eines Dienstleistungsunternehmens zu behandeln, sollte ihnen das Priestertum aller Gläubigen und die Verantwortung für die eigene Gemeinde zugemutet werden. Je mehr sie spüren, dass Wohl und Wehe der Gemeinde von ihnen abhängt, umso mehr werden sie Engagement, Phantasie und Entschlossenheit freisetzen. Die Kirche hat nicht nur "Angebote" für sie, sie nimmt sie in Anspruch; sie macht deutlich, dass sie gebraucht werden und es ohne sie nicht geht. Und dass es nicht allein um sie und ihre Bedürfnisse geht, sondern um die Anderen, die "Nächsten". Statt einfach nur nett zu sein zu denen, die noch dabei sind, um sie bloß nicht zu vergraulen, muss klar sein, dass die Teilnahme am Gemeindeleben auch Verbindlichkeit voraussetzt.

 

- Statt dass Pfarrerinnen und Pfarrer immer mehr zu Funktionärinnen und Funktionären höherer kirchlicher Leitungsebenen werden zu lassen und sie zunehmend mit Verwaltungsvorgängen zu belasten, ist der Schutz ihrer Freiheit, die sie für den Dienst an Wort und Sakrament, in Unterweisung und Seelsorge brauchen und die ihnen von den Kirchenordnungen ja auch zugestanden wird, unbedingt zu schützen. Das Pfarramt, also die Tatsache, dass Menschen nach guter, gründlicher Ausbildung und kirchlicher Beauftragung für Verkündigung, Seelsorge, Unterweisung, Spiritualität und Theologie freigestellt werden können, ist ein kostbares und unbedingt schützenswertes Gut.

 

Mit Blick auf das Resümee des Kommentars von Arnulf von Scheliha - "es (wird) zunehmend auf die Verantwortung des allgemeinen Priestertums der Getauften ankommen" - habe ich den Eindruck: So hitzig die Debatte derzeit geführt wird, ist sie noch lange nicht am Ende. Sie muss weitergehen und führt am Ende möglicherweise doch zu einer Perspektive, die von weitgehend Vielen geteilt werden kann.

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