"Kirche ist Zukunft": Ein neues "Jahrhundert der Kirche"

Die 1920ger-Jahre waren für die evangelische Kirche eine schwierige Zeit. In mancher Hinsicht gab es Parallelen zur Gegenwart. Schon damals waren große Teile der Bevölkerung dem kirchlichen Leben entfremdet. Auch damals hatte die Kirche mit massiven Finanzproblemen und mit Pfarrermangel zu kämpfen. Es stellte sich die Frage, ob die Kirche noch Volkskirche war. Sie war viele Jahrhunderte Staatskirche und wurde wie eine Behörde geführt. Mit der Weimarer Verfassung wurde sie zur selbständigen Kirche, deren Verhältnis zum Staat durch einen Staatsvertrag geregelt wurde, so wie es heute auch noch der Fall ist. 

 

Für viele Kirchenleute und Pfarrer bedeuteten diese Veränderungen eine tiefe Verunsicherung. Aber ein Kirchenmann sah darin eine große Chance. Das war Otto Dibelius, damals Generalsuperintendent, nach dem zweiten Weltkrieg Landesbischof in Berlin. Der sah in dieser Situation eine große Gelegenheit und war der Meinung, dass die Kirche ihre beste Zeit noch vor sich habe. Er schrieb ein Buch mit dem Titel "Das Jahrhundert der Kirche", das 1926 erschien. Die Kirche sei ja bisher keine Kirche gewesen schrieb er darin, sondern mehr oder weniger eine Behörde. Aber jetzt, aus der Vormundschaft des Staates entlassen, sei sie zum ersten Mal Kirche. Jetzt habe sie endlich die Möglichkeit, sich dementsprechend zu entfalten und aufzustellen. Dibelius war fasziniert von den Perspektiven, die sich damit auftaten, Aber, so schrieb er, um sie wirklich ausbauen und nutzen zu können, brauche es eine klare Führung. Bisher waren es nur Superintendenten und Generalsuperintendenten, die die Kirchen unter staatlicher Aufsicht leiteten. Jetzt würde dazu ein unabhängiges Bischofsamt gebraucht. Jetzt wäre eine echte geistliche Autorität erforderlich, hinter der sich das Kirchenvolk schart, ein Bischof.

 

So begeistert Dibelius selbst von seinem Jahrhundert der Kirche war - seine Begeisterung wirkte auf andere wenig ansteckend. Das gleichnamige Buch hatte einen violetten Einband, daher machten sich die Zeitgenossen gerne mal über das "violette Jahrhundert der Kirche" lustig. Echte Faszination löste es allenfalls bei denen aus, deren Existenz unmittelbar mit der Kirche verbunden war. Da hatten natürlich manche die Hoffnung auf eine große Zukunft der Kirche. Aber darüber hinaus weckten solche Gedankenspiele keine großen Erwartungen an die Kirche. Sie sind eher Ausdruck der Beschäftigung der Kirche mit sich selbst - abgesehen davon, dass etliche von ihnen eher als Wunschdenken denn als realistische Erwartung erscheinen.

 

Auch in der gegenwärtigen Kirchenkrise gibt es immer mal wieder Stimmen, die vorgeben, die Kirche habe ihre beste Zeit noch vor sich. Vor wenigen Jahren sprach man zum Beispiel vom "Wachsen gegen den Trend", worum es inzwischen etwas stiller geworden ist. Aber zeitgleich mit der Zunahme der Kirchenaustritte gibt es immer wieder Versuche, der Kirche eine große Zukunft zu unterstellen. Die Begriffe "Kirche" und "Zukunft" fallen oft im selben Satz.

 

So stößt man neuerdings auf eine Webseite mit dem Titel "Kirche ist Zukunft", wie wohl auch das Motto der anstehenden EKD-Synode lautet. Wenn man sie aufruft, begegnet einem eine Fülle von Initiativen und Projekten. Man mag sich fragen, was sie verbindet und was das gemeinsame Profil all dessen ist, aber in der Tat tut sich da ein wahres Potpourri auf. Man kann wirklich nicht beklagen, dass es zu wenig Leben, zu wenig Ideen oder zu wenig Engagement in unserer Kirche gäbe. 

 

Die Frage ist nur, an wen sich diese Botschaft richtet. Die derzeitige Kirchenkrise wird gewiss nicht durch einen Mangel an Ideen, Initiativen und Aktivitäten hervorgerufen. Kirchenleute sind unbestrittenermaßen unglaublich fleißig. Aber all das hat keinen nennenswerten Einfluss auf die wirklich Ursache der Kirchenkrise, nämlich die wachsende Bereitschaft der Mitglieder, auszutreten und die Kirche nicht mehr durch die Kirchensteuer mitzufinanzieren. Die Kirchen sind für breite Gesellschaftsschichten immer weniger interessant. Sind sie es, an die sich die Botschaft "Kirche ist Zukunft" richtet? Wäre dem so, müsste sich dies ja in Wiedereintritten in die Kirche niederschlagen. Damit dürfte aber kaum jemand ernsthaft rechnen. 

 

An wen also richtet sich die Botschaft "Kirche ist Zukunft"? Ich vermute, dass es sich hier ähnlich wie beim "Jahrhundert der Kirche" von 1926 eher um eine Selbstvergewisserung handelt: Seht doch, wir sind gar nicht so schlecht, wie die Leute immer sagen. Was wir alles in Bewegung setzen! Wir sind stark! So sehr das in der Tat auch der Fall ist - es hat auf den Kern des Problems, nämlich die Abhängigkeit von der sinkenden Kirchensteuer keine nennenswerte Auswirkung. Und das heißt: So aktiv, engagiert und kreativ das Kirchenvolk auch ist - irgendwann werden die führenden Kirchenleute - wie ich das während meiner gesamten Dienstzeit von 37 Jahren erlebt habe - wieder vors Mikrophon treten und verkünden: Wir müssen ans Eingemachte gehen. Es darf keine Tabus geben. Wir werden uns von Liebgewordenen trennen müssen usw. usw.

 

Mit anderen Worten: "Kirche ist Zukunft" ist die falsche Botschaft. Sie ist es schlicht und einfach nicht wahr, Jedenfalls nicht in dieser uns vertrauten Gestalt. Statt mit dem Slogan "Kirche ist Zukunft" falsche und uneinlösbare Erwartungen zu wecken, wäre es jetzt geboten, innezuhalten und die eigene Ratlosigkeit einzugestehen. Das wäre viel glaubwürdiger und zielführender.

 

Denn es gibt noch eine andere Seite, die meines Erachtens viel zu wenig bedacht wird. Mag der Prozess der Marginalisierung der Kirchen weitergehen, mag man mit guten Gründen der Meinung sein, dass die Kirchen kaum noch eine bedeutsame Rolle spielen werden: Auf ein lebendiges, praktiziertes und ein- bzw. ausgeübtes Christentum, auf einen gelebten und ausgestalteten Glauben kann unsere Gesellschaft schlechthin nicht verzichten. Wenn der nicht wäre, was sollte dann an seine Stelle treten? Unsere Zeitgenossen wissen sehr genau, dass sie an der Frage, was absolut verlässlich ist und wofür wir verantwortlich sind, kein Mensch vorbeikommt, und sie wissen auch, dass wir Christinnen und Christen uns diesen Fragen stellen und ihnen nicht ausweichen. Das Christentum ist keineswegs allein Angelegenheit der Christinnen und Christen, sondern der gesamten Gesellschaft, wenn denn nichts anderes an dessen Stelle tritt. 

 

Besonders deutlich ist mir dieser Sachverhalt in der Notfallseelsorge geworden. Um ein Beispiel zu erwähnen: Da sitze ich einer Frau gegenüber, die gerade vorhin noch die schlimmste Katastrophe ihres Lebens erlebt hat. Alles ist von einem auf den anderen Moment zerbrochen. Und da sitzt sie nun, am Ende ihrer Kräfte, schweigend, und ich sitze ihr gegenüber, ebenfalls schweigend, und ihre Not aushaltend. Da passiert etwas, was man eigentlich gar nicht beschreiben kann, aber es passiert. Wir haben uns vorher nie getroffen und werden uns auch nie wieder treffen. Aber in diesem Moment, im Augenblick ihrer Katastrophe, wo alles zerbrochen ist, sind wir uns, auch wenn wir uns nicht kennen, sehr nah. Wir spüren, ohne ein Wort zu wechseln, eine tiefe gegenseitige Solidarität. Wir stehen einander bei, nicht nur ich ihr. Und wir spüren: Da ist noch etwas anderes, was nicht zerbrochen ist. Und nicht zerbricht. Ein ganzes tiefes, kaum merkbares, aber nicht zerstörbares Ja. Diese unbekannte Frau wird ihren Weg finden.

 

Ein solche Erfahrung macht deutlich, dass es im Christentum im Kern um unser Menschsein, Menschsein aus der Tiefe geht. Gott wird Mensch, damit wir Menschen werden. Diese Erfahrung von Gottes und der eigenen Menschwerdung - wie soll sie denn ohne in geübtes Christentum möglich sein? Und wie soll eine Gesellschaft wie die unsere darauf verzichten können oder wollen?

 

Über Sinn und Notwendigkeit von Kirche kann man lange reden. Ich will die Kirche nicht abschaffen und wir werden immer eine Kirche haben, die mehr oder weniger Bedeutung unserem Zusammenleben haben wird. Aber zentral und von Bedeutung ist etwas anderes. Als die Apostel zu Pfingsten ans Werk gingen, haben sie keine Kirche gegründet. Sie haben den Gekreuzigten und Auferstandenen verkündet und Glauben geweckt und sie haben den zum Glauben Gekommenen die Gelegenheit gegeben, sich im Glauben zu üben. Dabei ist irgendwie auch die Kirche entstanden, aber erst als Folge, nicht als Voraussetzung von Glauben. 

 

Es geht also darum, Glauben zu wecken und zu üben. Darauf müsste sich alles konzentrieren. Um die Kirche brauchen wir uns dann keine Sorgen zu machen. Die kommt von selbst.

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