Wenn mich nicht alles täuscht, dann sind gerade unter denen, die sonst nur selten Gelegenheit haben, den Gottesdienst zu besuchen, viele, denen die Gottesdienste an Weihnachten wichtig sind und die es sehr bedauern, wenn sie ausfallen. Ich gehöre nicht zu denen, die solchen, in diesem Jahr verhinderten Gottesdienstbesuchern unterstellen, sie würden ja nur Weihnachtsromantik und Sentimentalität mit Stiller Nacht und O du fröhliche suchen. Ich weiß, dass sich darunter eine tiefere Sehnsucht verbirgt. Deswegen war die Christvesper - beispielsweise die am Heiligen Abend um 21 Uhr im Altenberger Dom - der für mich mit Abstand wichtigste Gottesdienst im ganzen Jahr gewesen. Wichtiger als sogar die Osternacht. Es gibt kaum einen Gottesdienst, den ich mit gleicher Leidenschaft und Intensität vorbereitet hätte als diesen. Und gerade der Heilige Abend ist für mich ein Indiz, dass die "Volkskirche" keineswegs im Sterben liegt, sondern sehr lebendig ist (wenn nicht gerade Coronabedingungen herrschen). Deswegen mache ich sie hier zum Thema.
Wir leben in einem Land, in dem Religionsfreiheit herrscht. Sie gehört mit zu dem, was uns am meisten heilig ist. Es ist ein kostbares Gut, selbst entscheiden zu können, woran wir glauben. Dass nun immer mehr Menschen diese Freiheit nutzen und die einmal selbstverständliche Kirchenmitgliedschaft, evangelisch oder katholisch, aufzugeben, ist eine Folge der Wertschätzung der Religionsfreiheit. Selbstverständlich sein, also sich von selbst verstehen kann die Kirchenmitgliedschaft in Zukunft nicht mehr. Es bedarf dazu in zunehmendem Maße eine bewusste Entscheidung. Wer heute noch evangelisch oder katholisch ist, ist das kaum noch, weil man das eben ist, sondern weil man sich bewusst dafür entschieden hat.
"Die Zeit der Volkskirche ist vorbei" - diese resignierte Schlussfolgerung ziehen Kirchen-Verantwortliche gerne aus dieser Entwicklung. Sie erwarten damit eine Entwicklung hin zu einer Minderheits- und Freiwilligkeitskirche, in der die Kirchenmitgliedschaft nicht mehr von Generation zu Generation unreflektiert weiter gegeben wird, sondern nur noch bewusst gewählt werden kann.
Das Problem ist nur die fatale von Verwechslung der Volkskirche mit der Mehrheitskirche. Diese hat wiederum ihren Ursprung in der Gleichsetzung von "Christ-Sein" mit der Kirchenmitgliedschaft. Evangelisch oder katholisch ist man, solange man die entsprechende Kirchensteuer zahlt, und wer aus der Kirche austritt und sich damit die Kirchensteuer spart, ist damit nicht mehr evangelisch oder katholisch. Auf diesem Grundsatz - also: Evangelisch bzw. katholisch ist, wer die freiwillige Kirchensteuerpflicht nicht aufgegeben hat bzw. wer sie eingegangen ist - baut die kirchliche Verwaltung auf. Sie hat demgemäß ein dezidiertes Interesse an der Kirchenmitgliedschaft der Menschen - und kein besonderes Interesse an der Frage, ob die Menschen wirklich glauben oder wie die Menschen ihren christlichen Glauben leben. Sie könnten ja auch aus der Kirche austreten und trotzdem bewusst einen christlichen Lebensstil, eine evangelische Spiritualität praktizieren - für die kirchliche Verwaltung spielt das keine Rolle mehr.
Mir sind als Pfarrer immer wieder Menschen begegnen, die sich als "evangelisch" oder "katholisch" bezeichnen, obwohl sie aus die Kirche ausgetreten sind. Bei der Vorbereitung etwa von Taufen musste ich oft noch einmal nachfragen, ob die betreffenden Personen tatsächlich auch Mitglied der Kirche sind (weil das z. B. die rechtliche Voraussetzung für die Taufpatenschaft ist), worauf ich etwa solche Antwort bekam: "Nein, ich bin vor einigen Jahren ausgetreten. Aber ich bin evangelisch getauft." Unfreiwillig wird damit eine wichtige und theologisch gesehen zutreffende Aussage über die Taufe gemacht: Eine Kirchenmitgliedschaft lässt sich kündigen - die Taufe aber eben nicht. Sie ist unkündbar und unaufhebbar.
Es zeigt sich immer wieder, dass der Austritt aus der Kirche nicht gleichbedeutend ist mit der Abwendung vom Christentum oder der Zuwendung zu einer nichtchristlichen Religion oder Weltanschauung. In vielen Fällen bewahren sich die Ausgetretenen eine christliche Identität oder gar eine christliche Praxis. Dass sie zugleich tiefe Zweifel, eine grundlegende Skepsis oder Fremdheitsgefühle hegen, muss dazu nicht im Widerspruch stehen, denn auch Kirchenmitglieder können sehr wohl, aus welchen Gründen auch immer, der Kirche weiter angehören, obwohl sie sich der Botschaft des Christentums entfremdet haben. Es dürfte für die große Mehrheit der Menschen unter uns zutreffen, dass sie Fragen, Skepsis oder Zweifel haben. Aber sie setzen sich auf sehr vielfältige Weise mit dem christlichen Glauben auseinander. Sie werden so schnell nicht von ihm losgelassen.
Und das hat damit zu tun, dass unsere Zivilisation seit Jahrhunderten, ja Jahrtausenden durch das Christentum geprägt ist. Judentum, Islam, philosophisch orientierte Weltanschauungen, Agnostizismus und Atheismus haben ihren Platz unter uns - aber auch sie haben sich in einer zutiefst christlich geprägten Umgebung niedergelassen. So oder so ist eine Auseinandersetzung mit dem christlichen Erbe in Aneignung oder Abgrenzung - oder beidem zugleich! - unumgänglich. Das mag man begrüßen oder bedauern, aber es als Tatsache zu akzeptieren, ist unumgänglich.
Wenn also - auch katholische! - Kirchenfunktionäre gerne behaupten, die Zeit der Volkskirche sei vorbei, verkennen sie - zum Schaden von Gesellschaft und Kirche - die Situation völlig. Bemerkenswert ist ja, dass - ebenfalls in beiden großen Kirchen - die volkskirchlichen Strukturen beibehalten werden. Sie beziehen sich auf Parochien, Kirchenkreise, Erzbistümer und dergleichen, also auf Gebiete, Orte und Regionen und nicht auf die Personen. Der Wohnort und nicht die eigene freie Entscheidung bestimmt - von wenigen Ausnahmen abgesehen - die Kirchenmitgliedschaft. Pfarrerinnen und Pfarrer "betreuen" ein bestimmtes Gebiet. In deren Dienstanweisung werden nicht die Personen genannt, die dem Pfarr-"Amt" anvertraut sind, sondern die Straßen, in denen sie wohnen. Ziehen sie dort weg, ist die Pfarrerin oder der Pfarrer nicht mehr "zuständig". Das kirchliche "Meldewesen" - schon dieser Ausdruck ist bezeichnend - arbeitet in einer Weise, die der eines Einwohnermeldeamtes durchaus vergleichbar ist. Zwar werden die zu betreuenden Personen inzwischen weniger als zu bearbeitenden Fälle angesehen, sondern zunehmend als eine Art Kunden, die Anspruch auf Dienstleistungen haben. Aber auch das geschieht in Analogie zu Ämtern etwa zum kommunalen Bereich, die sich in zunehmend als Dienstleistungen verstehen, auf die Bürgerinnen und Bürger Anspruch haben.
Die Behauptung, die Zeit der Volkskirche sei vorbei steht also im Widerspruch zur tatsächlichen kirchlichen Praxis, die an den vorhandenen volkskirchlichen Verhältnissen bisher nicht nennenswert rüttelt. Der gegenwärtigen Entwicklung angemessen wäre aber genau das Umgekehrte, nämlich das bewusste Festhalten am Anspruch, Volkskirche zu sein bei einem konsequenten Verzicht auf den Behördencharakter der Kirche, was natürlich extrem schwierig ist, weil diese Praxis tief verwurzelt ist und daran auch zahlreich Arbeitsplätze hängen. Dennoch wird es unvermeidlich sein eine, wenn auch langfristige, Perspektive in diese Richtung zu entwickeln. Diese Perspektive muss zweierlei berücksichtigen:
1. Dass wir als evangelische Kirche Volkskirche sind und bleiben werden, dass ist schon in der (in der Rheinischen Kirche wichtigsten Bekenntnisschrift, der) Barmer Erklärung festgelegt. Deren sechste These hält fest, dass "der Auftrag der Kirche...(darin) besteht... die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk". Laut der fünften These soll sie "die Regierenden und Regierten" an "Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit" und damit an deren Verantwortung erinnern. Wie Jesus Christus Zuspruch ist, so die zweite These, "so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben". "Durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung... zu freiem, dankbaren Dienst an seinen Geschöpfen". Botschaft "an alles Volk" und nicht nur an die eigenen Gemeindeglieder, Dienst "an seinen Geschöpfen" und nicht nur an denen die in der Mitgliederkartei stehen - stärker kann man nicht zum Ausdruck bringen, dass die Kirche Angelegenheit des ganzen Volkes ist - und damit "Volkskirche".
2. Um weiterhin - oder wieder - Volkskirche zu sein, ist aber ein tiefgreifender Wandel nötig. Das besagte "Meldewesen" bringt das Wesen der Volkskirche gerade nicht mehr zum Ausdruck. Statt kirchliche Zuständigkeiten lückenlos flächendeckend zu definieren brauchen wir verlässliche offene bzw. öffentliche Orte, an denen das Evangelium, die Botschaft des Christentums präsent ist und resonant wird. Dort kann jeder hin und wieder weggehen. Schon allein das Wissen, dass in der Nähe ein solcher offener, öffentliche Ort ist, hat ähnliche Bedeutung wir die Kirchtürme, die eine Stadtsilhouette prägen. Solche Orte offen zu halten, darauf müssten sich alle Kräfte konzentrieren. Dazu braucht es Gemeinde und eine aktive, in der Regel ehrenamtliche Mitarbeiterschaft, die nicht nur für sich selbst, sondern eben für das Volk da ist. In diesem Sinne hat die Volkskirche ihre beste Zeit noch vor sich. Vorbei ist sie jedenfalls noch lange nicht.
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