Biblische Lebenskunst in der Volkskirche (4/5): öffentlich

Als Jakob nach seinem perfiden Betrug an seinem Bruder Esau Hals über Kopf von zu Haus aufbrechen und fliehen muss, träumt ihm in der ersten Nacht unterwegs, wie auf eine Leiter die Engel zwischen ihm und Gott auf und nieder gehen und wie Gott, in dieser Situation alles andere als selbstverständlich, ihm dieselbe Treue zusagt, mit der er auch Abraham und Isaak begegnet war. Dann wacht Jakob in der Morgenfrühe auf und ihm geht durch den Sinn:

 

Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels. (Gen 28,16)

 

Er nimmt den Stein, der ihm als Kopfkissen gedient hat, richtet ihn auf und “salbt“ ihn, indem er Öl über ihn gießt. Später entsteht hier Beth-El ("Haus Gottes"), ein wichtiges Heiligtum der Frühzeit Israels. Bis dahin war Jakob wohl an heiligen Orten nicht interessiert und wusste vielleicht nicht einmal, dass es welche gab.

 

Es gehört zu den Irrtümern der evangelischen Kirche, zu meinen, es gäbe keine heiligen Orte. Deswegen sind die evangelischen Kirchen meistens verschlossen - wenn sie keine heiligen Orte sind, müssen sie für niemanden offenstehen. Das hat zur Folge, dass die Menschen von ihnen - von der einen gottesdienstlichen Stunde am Sonntagmorgen abgesehen - ausgeschlossen fühlen müssen. So steht unsere Kirche die ganze Woche lang abweisend da, fremd, kalt, desinteressiert, gleichgültig dem gegenüber, was um sie herum geschieht. Wenn die Gemeinde selbst daran zweifelt, dass sich hier etwas so wesentliches ereignet, dass es sich dafür lohnt, die Kirche kontinuierlich offen zu halten, dann wird sie davon auch sonst niemanden überzeugen.

 

Unsere Kirchen sind aber Orte, an denen sich Gott und Mensch begegnen. Hier wird das Wort ausgerichtet, das Gott zum Menschen gesprochen hat. Hier rufen Menschen seinen Namen an. Hier wird ihm in Gesang und Musik die Ehre erwiesen. Hier wird in Taufe und Abendmahl der Bund geschlossen und erneuert. Hier werden Menschen bei ihrer Taufe, Konfirmation, Trauung, Ordination und ähnlichen Gelegenheiten gesegnet. Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus und die Pforte des Himmels. Warum soll es Menschen verwehrt werden, sich an diesem Ort aufzuhalten, der ihnen Asyl gewährt, wo das Wort ergeht, das sie meint, wo der Name wohnt, den sie anrufen dürfen?

 

Wie wollen die Kirchen ihrem Auftrag nachkommen, wenn diese heiligen Orte der Begegnung zwischen Gott und Mensch nicht offen gehalten werden? Das geschieht zum einen durch die sonntäglichen Gottesdienste, die vor allem den professionell Mitarbeitenden im Pfarr-, Kantoren- und Küsteramt anvertraut sind. Die Gemeinde bleibt gleichwohl nicht passiv, sondern beteiligt sich aktiv durch Gesang, Glaubensbekenntnis, Gebet, Sammlung (Opfer) und Empfang von Brot und Wein. Es kommt bei diesen regulären Gottesdiensten weniger drauf an, dass sie möglichst gut besucht sind; vielmehr reichen notfalls die berühmten "zwei oder drei" (Mt 18,20) aus, um den Gottesdienst zu feiern. Viel wichtiger ist, dass sie verlässlich und regelmäßig stattfinden, denn nur so können sie dazu beitragen, die Kirchen als Orte der Gottesbegegnung offenzuhalten. Die Volkskirche braucht nicht notwendig volle, wohl aber verlässliche Gottesdienste.

 

Zum anderen hat die Kirche eine kaum zu unterschätzende Wirkung auf das Dorf oder den Stadtteil, wenn sie, in der Tat als heiliger Ort, kontinuierlich, von morgens bis abends geöffnet und zugänglich bleibt. Auch wenn es über lange Zeiten niemanden gibt, der diesen Ort aufsucht - allein das Wissen, dass es diesen offenen, zugänglichen Ort, an dem der Name und das Wort Gottes seine Wohnstätte hat, gibt, den jeder, wenn er wollte, hier und jetzt aufsuchen kann, wird dies das Verhältnis der Menschen, die in der Nachbarschaft leben, nachhaltig verändern. Sie werden ihn sehr vielmehr als "ihren" Ort begreifen, auch wenn sie der Gemeinde gar nicht (mehr) angehören werden und schon allein deswegen, weil sie Nachbarn sind. Berührungsängste und Schwellen dürfte dann deutlich geringer sein als wenn die Kirche in den meisten Zeiten verschlossen bleibt.

 

Wer die offene Kirche aufsucht, findet möglicherweise eine brennende Kerze vor. Er hat die Möglichkeit, selbst an ihr eine Kerze anzuzünden und auf den Fürbitten-Leuchter zu setzen. Er kann einen Eintrag in das ausliegende Fürbitten- und Tagebuch notieren. Er kann im Gesangbuch, in einer Bibel oder in anderen bereit liegenden Schriften oder Büchern lesen. Etwas zu trinken oder zu knabbern / essen steht bereit. Er kann eine Spende in den Opferstock ein einlegen. Er kann irgendwo in den Kirchenbänken Platz nehmen, um zu schweigen, zu beten, zu meditieren oder zu lesen. Niemand wird dabei gestört werden. Es ist immer eine Person anwesend, die ggf. auch ansprechbar ist, die aber von sich aus die die Kirchen aufsuchenden Menschen in Ruhe lässt. Zu bestimmten Stunden kann die Kantorin ein kurzes Orgelspiel zu Gehör bringen. Eine Kirche ist also nicht alleine dadurch schon offen, in dem lediglich die Tür aufgeschlossen wird.

 

Um die Kirche auf diese Weise offen zu halten, braucht es ein ganzes Team, und zwar eines, das im Priestertum der Getauften geübt ist. Die Kirche offenzuhalten ist ein priesterliche Dienst. Priester sind Menschen, die anwesend, präsent sind, wo Gott anwesend und präsent ist. Die auf Gott achten, wie er auf sie achtet. Die ihm vertrauen, so wie er ihnen vertraut. Die Verantwortung für Menschen und die Schöpfung übernehmen, so wie Gott die Verantwortung dafür übernimmt. So, wie Gott und Mensch sich begegnen, so begegnen die Priesterinnen auch anderen Menschen, in der Kirche ebenso wie draußen "im Alltag der Welt". Präsenz, Achtsamkeit, Vertrauen und Verantwortung sind die Kennzeichen dieses Priestertums, mit deren Hilfe das Evangelium kommuniziert wird.

 

Während dem (Küster-, Kantoren- und Pfarr-)Amt der Sonntagsgottesdienst anvertraut ist, in dem Wort und Sakrament im Mittelpunkt stehen, übernimmt das Priestertum der Getauften die Verantwortung für einen Gottesdienst unter der Woche, indem im Zentrum steht, was im Sonntagsgottesdienst nur am Rande eine Rolle spielt: Der Segen und die Tauferinnerung - Rituale, die ebenfalls der Kommunikation des Evangeliums dienen. Der Gottesdienst am Sonntag ist durch das Gottesdienst- und Perikopenbuch verhältnismäßig festgelegt; auch wie man sich im Gottesdienst in aller Regel verhält, ist durch Gewohnheit und Tradition geprägt (was noch mehr für die katholische Sonntagsmesse gilt).

 

Jener Gottesdienst unter der Woche, der vom Priestertum der Getauften gestaltet wird, ist von ganz andere Art. Nach dem Vorbild der Thomasmesse oder den Gottesdiensten in Taizé können die in diesem Gottesdienst Anwesenden selber entscheiden, ob sie nur Beobachter sein wollen oder sich und auf welche Weise sich am Gottesdienst beteiligen. Sie können Steine ablegen oder Kerzen anzünden, als Zeichen für ihre Klage oder ihr Gebet. Sie lassen sich die Hände auflegen oder salben als Ausdruck des Segens, der Bitte um Heilung oder der Erinnerung an ihre Taufe. Sie halten am - mit Wasser gefüllten - Taufbecken inne, halten die Hand ins Wasser und segnen sich mit dem Kreuzzeichen, auch das zum Gedächtnis der eigenen Taufe. Sie singen mit, oder schweigen. Sie ziehen sich in irgendeine Ecke der Kirche zurück und beten in der Stille. Manchmal wird in diesem Gottesdienst Abendmahl gefeiert, manchmal viel gesungen; ein Bibel-Teilen, Gespräche, kreative Aktivitäten haben hier ihren Ort, an dem große Freiheit herrscht.

 

Und dann gehen Getauften, die zum Priestertum Geweihten und in ihm Geübten, hinaus in den Alltag und zu den Menschen, sind dort ganz präsent und achten auf sie. Sie nehmen sie wahr und lassen gegenseitiges Vertrauen entstehen. Sie ergreifen Initiative oder verabreden sich zu gemeinsamem Tun. So bezeugen sie ihren Glauben und kommunizieren das Evangelium. 

 

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