Bonhoeffer, die Religion und die Arkan-Disziplin. Oder: Warum ich Michaelsbruder wurde (4/6)

Krötke hat selbst dazu einen entscheidenden Hinweis gegeben. In einem weiteren Aufsatz[1] beschreibt er, wie zur selben Zeit, in der er von den religionslosen Zeitgenossen, der Ohnmacht Gottes und dem Teilnehmen an Gottes Leiden schreibt, sich ein ganz anderer Ton in Bonhoeffers  Äußerungen mischt, der Ton einer fast kindlichen Frömmigkeit, die sich der „Hand und Führung Gottes“ anvertraut. Krötke zitiert zum Beispiel einen Satz aus dem Brief vom 23. August 1944: „Gottes Hand und Führung ist mir so gewiss, dass ich hoffe, immer in dieser Gewissheit bewahrt zu werden. Du darfst nie daran zweifeln, dass ich dankbar und froh den Weg gehe, den ich geführt werde.“[2] Krötke stellt dazu fest, dass sie nicht über die Köpfe der Menschen hinweg, nicht unbewusst und automatisch geschieht. Die Führung Gottes und ihre Wahrnehmung setzt eine „Akt der Entscheidung des Glaubens an Gott, wie das Aktivwerden im eigenen Handeln unter der Gewissheit der Führung Gottes“ voraus. „Es gibt keine Führung an sich“, sondern „der Glaube ist… die jeweils aktuelle Befähigung, die Gewissheit von Gottes Führung zu fassen und von ihr zu reden.“[3] Das bedeutet, dass sich die Führung Gottes dem Geführten nur persönlich, durch seinen Glauben erschließt. Nur ich kann von mir sagen und ich kann es nur von mir sagen, dass ich von Gott geführt bin. Das hat zur Folge, dass die Erzählung, von Gott geführt zu sein, nur unter denen kommunizierbar ist, die sich selbst als von Gott geführt betrachten. Anderen gegenüber, für die das nicht zu trifft, muss eine solche Feststellung wie eine Nötigung vorkommen. „Die Annahme eines allgemeinen Wirkens und Waltens Gottes in der Welt ist dagegen… im Grunde auf den Deus absconditus bezogen“, den man nach Luther aber „überhaupt nicht zum Gott haben“ kann, „weil seine dunklen Wege uns nur zur Verzweiflung treiben“[4]. Krötke unterscheidet hier zwischen einem persönlichen und einem allgemeinen Reden von Gott. Die persönliche, „intime“ Rede von Gott, das „Glaubensleben im Arkanum“, das man nicht vor den „Säuen“ in der Öffentlichkeit präsentiert, sondern das im Intimen, Privaten und Abgeschirmten zuwartet, bis es Gott gefällt, es vor allen und besonders vor uns selbst zu offenbaren“[5], findet sich in Bonhoeffers Zeugnissen ausschließlichen in Briefen und Texten, die er an Personen seines Vertrauens richtet, etwa an Maria von Wedemeyer oder Eberhard Bethge. In diesem Ton hätte Bonhoeffer nie auf Kanzel und Katheder gesprochen oder seine Bücher geschrieben. Gegenseitiges Vertrauen ist also das Kennzeichen des Bereiches, in dem, wie Bonhoeffer sie nennt, Arkandisziplin herrschen soll, der damit zum Bereich wird, in dem sich Gottvertrauen ereignen kann, und zwar als gegenseitiges Geschehen: Nicht nur, dass der Mensch Gott vertraut, sondern auch, dass Gott dem Menschen vertraut. Wenn „Gott.. sich aus der Welt herausdrängen (lässt) ans Kreuz, Gott ohnmächtig und schwach in der Welt (ist) und gerade nur so… bei uns (ist) und… uns (hilft)“[6], dann scheint das ein Hinweis darauf zu sein, dass Gott in seine Schwachheit und Ohnmacht auf dieses gegenseitige Vertrauen angewiesen ist, um in der Welt und bei den Menschen zu sein und uns zu helfen. Wenn dem so ist, dann existiert offensichtlich ein Zusammenhang zwischen dem Vertrauen zwischen Menschen und dem Vertrauen zwischen Gott und Mensch. Gottvertrauen und gegenseitiges Vertrauen ermöglichen sich gegenseitig. Dieses Vertrauen ist gewissermaßen die Einlassbedingung, um Zugang zu dem Bereich zu erlangen, in dem Arkandisziplin herrscht. Sie ist vergleichbar mit der Intim- und Privatsphäre eines Menschen.

 

Daher spielt die „Arkandisziplin“ – auch wenn sie von Bonhoeffer nur spärlich und (scheinbar!) beiläufig erwähnt wird – in eine solchem religionslosen Christentum und dem nichtreligiösen Interpretrieren eine Schlüsselrolle: „Dieses Anliegen... stellt sich aber sofort als das Problem des Christen, sobald er das Ausmaß seiner Identifikation mit der Welt zu sehen beginnt. Wenn also nichtreligiöse Interpretation Identifikation meint, so die Arkandisziplin Gewährleistung einer Identität“[7], d. h. der Fähigkeit, Subjekt der eigenen Lebensgeschichte zu sein.

 

Die Arkandisziplin bezeichnet in der alten Kirche die Übung, zentrale Vorgänge des Glaubens und des Gottesdienstes wie z. B. die Feier der Eucharistie vor Nichtgläubige und Nichtgetaufte zu verbergen. Das Katechumenat diente in diesem Sinne dazu, Taufbewerber in diese „Geheimnisse“ des christlichen Glaubens heranzuführen und sie damit vertraut zu machen. So nahmen daran nur Menschen teil, die wussten, was sie bedeuteten und die sich mit ihnen identifizierten. Auf die Arkandisziplin greift Bonhoeffer zurück, um sicherzustellen, dass nur diejenigen damit konfrontiert werden, die die Gelegenheit haben, sie sich im Vorgang elementaren Lernens aneignen zu können. Wenn man sie in aller Öffentlichkeit einfach nur propagiert, proklamiert, „verkündet“ oder vorführt, ohne dass die Angesprochenen Gelegenheit haben, sie sich in mündiger Selbstständigkeit, also „ohne Leitung eines anderen“ anzueignen (oder eben auch abzuweisen!) werden sie sofort religiösen und bevormundenden Charakter bekommen. „Diese ‚Geheimnisse’... werden... zu ‚religiösen Objekten’, zum ‚Offenbarungspositivismus’, wenn sie unmotiviert, angeboten, aufgezwungen und billig verschleudert werden... die Arkandisziplin schützt... die Welt vor einer Vergewaltigung durch die Religion“[8] Gebet, Meditation, Gottesdienst, der „echte Kultus“[9] sind als Lebensvorgänge des Glaubens unaufgebbar, aber sie eignen sich nicht für missionarische Demonstrationen. Die Arkandisziplin schützt den Ort, an die mündigen Zeitgenossen mündig, in freier Selbstbestimmung und eigener Verantwortung, „ohne Anleitung durch einen Anderen“ in einem Prozess elementaren Lernens die zentralen Vorgänge des Christentums aneignen können, wenn sie es denn wollen.

 

Nun ist es auch offensichtlich, warum Bonhoeffer im „Entwurf seiner Arbeit“, in dem er die Gestalt einer kommenden Kirche skizziert, vom Dasein der Kirche für andere spricht, aber nicht mehr von der öffentlichen Verkündigung.[10] Wenn die Arkandisziplin die Sphäre des Vertrauens darstellt, dann dient das Dasein für andere der Vertrauensbildung, die nur unter Anerkennung der Mündigkeit und unter Verzicht auf Bevormundung möglich ist. „Das Ziel von Gemeindeaufbau heißt Vertrauensbildung; und umgekehrt: wo sollte Vertrauensbildung in der Welt ihren Ort und Anfang nehmen können, wenn nicht im Gemeindeaufbau?[11] (…) In diese Bewegung gehört mit hinein, dass Vertrauen nicht beschränkt bleiben kann auf den inneren Freundeskreis oder die geschlossene Gemeinschaft. Wer solches Vertrauen erlebt und gelernt hat, wird es ausbreiten.“[12] Die Christen sind für andere da, um deren Vertrauen zu wecken. Vertrauensbildung setzt die Übernahme von Verantwortung voraus, die bei Bonhoeffer eine so zentrale Rolle spielt, denn Vertrauen kann nicht wachsen, wo es niemanden gibt, der Verantwortung übernimmt und damit Verlässlichkeit gewährt: „Ich glaube, dass Gott kein zeitloses Fatum ist, sondern dass er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.“[13] Ob die öffentliche Verkündigung das in einer Zeit der Religionslosigkeit und der mündig gewordenen Zeitgenossen so leisten kann, diese Frage zu stellen ist nicht abwegig. In diesem Sinne wird das Christuszeugnis nicht in erster Linie in der Rede von Gott, sondern notwendig im Dasein für andere bestehen, das heißt in der Übernahme von Verantwortung und der Bildung von Vertrauen. Ohne Arkandisziplin wäre das nicht denkbar. Man könnte sich gar fragen, ob Bonhoeffer, ohne es zu wissen oder zu wollen, in dieser Zeit zum Mystiker geworden ist. Als Indiz dafür mag das Neujahrslied von der Jahreswende 1944/45 dienen, dessen vorletzte Strophe lautet: „Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet, so lass uns hören jenen vollen Klang der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet, all Deiner Kinder hohen Lobgesang“ - Den vollen Klang der Stille, bzw. in der Stille den vollen Klang der unsichtbar sich um uns weitenden Welt zu hören, - dass ist in der Tat mystische Sprache. Die Mystiker beschreiben, was sie wahrnehmen, was sie sehen und hören, nachdem sie ins Schweigen eingetaucht, zu Stille gelangt sind, alles losgelassen haben, alles sinnenbedingte Wahrnehmen, alles was sie ablenkt. - Menschen, die nicht religiös sein können, akzeptieren keine Erkenntnis außerhalb der Realität. Sie orientieren sich vollständig am Diesseits, also daran, was wir normalerweise „Wirklichkeit“ nennen. Entscheidend ist nun, dass mystisches Erkennen sich ebenfalls vollständig an der Wirklichkeit, am Diesseits orientiert. Für mystisches Denken ist die Orientierung an irgendeiner Metaphysik oder Innerlichkeit entbehrlich: Der Blick der Mystiker ist der Blick auf die Wirklichkeit. In diesem Sinne wird Bonhoeffer zum Mystiker. Am 21. Juli, am Tag nach Stauffenbergs gescheitertem Attentat, schreibt er in dem vielleicht wichtigsten seiner Tegeler Briefe:

 

„Ich habe in den letzten Jahren mehr und mehr die tiefe Diesseitigkeit des Christentums kennen und verstehen gelernt. Nicht ein homo religiosus, sondern ein Mensch schlechthin ist der Christ, wie Jesus - im Unterschied wohl zu Johannes dem Täufer - Mensch war. Nicht die platte und banale Diesseitigkeit der Aufgeklärten, der Betriebsamen, der Bequemen oder der Lasziven, sondern die tiefe Diesseitigkeit, die voller Zucht ist, und der die Erkenntnis des Todes immer gegenwärtig ist, meine ich. Ich glaube, dass Luther in dieser Diesseitigkeit gelebt hat… Später erfuhr ich und ich erfahre es bis zur Stunde, dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen - sei es einen heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann (eine sogannte priesterliche Gestalt!), einen Gerechten oder Ungerechten, einen Kranken oder einen Gesunden -  und dies nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben, - dann wirft man sich Gott ganz in die Arme…“ [14]

 

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[1] Krötke 2009, 381-402. Alle Hervorhebungen in den folgenden Zitaten im Orignial.

[2] Krötke 2009, 381 (= DBW 8, 576)

[3] Krötke 2009, 394f.

[4] Krötke 2009, 395

[5] Krötke 2009, 385

[6] Widerstand und Ergebung 1977, 2. Auflage, 394, zit. b. Kraus 1982, 91)

[7] Bethge, Bonhoeffer, 987

[8] Bethge, Bonhoeffer, 990

[9] Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, zit. n. Bethge, Bonhoeffer, 989

[10] Ich schließe mich Krötkes Meinung nicht an, der meint, dass „die Dimension der Verkündigung“ bei Bonhoeffer „durchaus präsent (bleibt)“ (Krötke 2009, 364 Anm. 9; vgl. 374). Die Belege, die er anführt, geben das m. E. nicht her.

[11] Reiner Strunk, Vertrauen. Grundzüge einer Theologie des Gemeindeaufbaus, 1985, 10 (zu einer Meditation Bonhoeffers von 1941)

[12] Strunk 1985, 16

[13] DBW 8, 31

[14] Brief vom 21. Juli 1944, in: Bonhoeffer, Dietrich, Widerstand und Ergebung, Siebenstern-Taschenbuch 1; München / Hamburg, 1964, 183

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