Es ist manchmal wirklich verblüffend, doch es passiert immer wieder: Dass ein Predigttext, der gerade dran ist und eine Situation so zusammenpassen, als wäre er geradezu für sie geschrieben.
So lese ich den Predigttext (1. Korinther 4,1-5) für den 3. Adventssonntag als Antwort auf ein Interview von Präses Latzel aus dem EKIR.info (Download), das heute, ein paar Tage vor jenem Sonntag, erschienen ist.
Der Präses möchte eine faszinierende Kirche. Evangelisch, engagiert, kooperativ, kontaktstark, innovativ, international, rheinisch und resilient. “Dieses Profil wollen wir in Zukunft weiter entfalten.“
Der Präses meint, dass dafür zu wenig getan wird: "Wir haben kein Erkenntnis-, sondern ein Handlungsdefizit". Deswegen werden er und die Kirchenleitung zum "Auftraggeber". Sie laden Menschen mit besonderer Kompetenz und Expertise ein und legen fest, wer für was die Projektleitung übernimmt und wer zu welcher Steuergruppe gehört.
Der Präses möchte die Kirche vermarkten. "Wir haben einzigartige, beeindruckende geistliche Räume, oft im Spitzenlagen". Die lassen sich etwas für zivilgesellschaftliche Treffen, Hochzeiten, Kulturveranstaltungen oder nächtliche Kirchenführungen anbieten. "Hier schlummert ein großes, unausgeschöpftes Potenzial."
So stellt der Präses die Weichen für den Weg zur faszinierenden Kirche. Jedoch, selbst wenn es dazu käme: Die Leute würden sich nicht für sie interessieren. Weil sie nicht entdecken könnten, was die Kirche zur Kirche macht. Was sie ausmacht und unterscheidet.
Die Kirche, die sich im ersten Korintherbrief widerspiegelt, ist alles andere als faszinierend. Sie ist von Spaltungen, Konflikten, Machtkämpfen, Gedankenlosigkeit und Bequemlichkeit geprägt. Es ist ernüchternd, was da zum Vorschein kommt. Aber auch Paulus macht keine gute Figur. "Es ist mir bekannt geworden... Überhaupt hört man, dass... Ich höre... und zum Teil glaub ich es..." Es ist peinlich, wie Paulus auf Gerüchte eingeht und sie ernst nimmt. Dass Paulus offensichtlich nicht nur Freunde in Korinth hat, sondern auch viel Misstrauen, vielleicht sogar Haas auf sich zieht, ist leicht nachvollziehbar.
Man fragt sich, wie eine solche alles andere als faszinierende Chaostruppe überleben kann, ohne auseinanderzufallen. Was hält sie zusammen? Im Predigttext zum 3. Adventssonntag gibt Paulus einen wichtigen Hinweis. Er bezeichnet sich selbst als "Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse". Als solcher stellt er sich nicht menschlicher Kritik, sondern “der Herr ist's, der mich richtet". Was aber ist mit "Gottes Geheimnissen" gemeint?
Um es vorwegzunehmen: Die sind tatsächlich faszinierend. Schon im ersten Kapitel beschreibt er sie. Faszinierend ist, dass die Christen in Korinth, wie einst Israel, wie einst Abraham, Mose, David und die Propheten berufen sind, von Gott erwählt. Das ist es, was sie trotz aller Krisenstimmung in die Gemeinde treibt und dort bleiben lässt. Ausgerechnet sie! "Seht doch, Brüder und Schwestern, auf eure Berufung. Nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme sind berufen. Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt,... und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt,... und was gering ist vor der Welt und was verachtet ist, das hat Gott erwählt, was nichts ist, damit er zunichtemache, was etwas ist, auf dass sich kein Mensch vor Gott rühme"
Das ist es, was sie stolz und selbstbewusst macht und was viel schwerer wiegt als all die kleinlichen Gehässigkeiten: Sie sind von Gott erwählt. Sie haben einen Gott. Durch Jesus, durch das Wort vom Kreuz ist Israels Gott auch ihr Gott, und das kann ihnen keiner mehr nehmen.
Dass ich berufen bin, dass der Gott Israels durch den Gekreuzigten und Auferstandenen auch mein Gott ist, wie der meiner Schwestern und Brüder, dass er mich wie einst Israel erwählt hat, das ist es, was mich bei der Kirche hält. Und, in der Tat, das ist faszinierend.
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