Von Anfang an, also schon in den 1920er-Jahren, hat sich die Berneuchener Bewegung als Antwort auf die Krise der Volkskirche verstanden. Damals wurde die Krise dadurch ausgelöst, dass die evangelische Kirche seit 1919 mit Inkrafttreten der Weimarer Verfassung nicht mehr Staatskirche war. Das löste die Frage aus, was nun aus der Kirche werden würde. Rechtlich ist diese Frage mit dem Artikel 137 der Weimarer Verfassung, der später in den Artikel 140 des Bonner Grundgesetzes übernommen wurde, beantwortet worden. Was das aber theologisch bedeutete, das musste sich noch klären. Es gab sehr unterschiedliche Antworten darauf. Eine Antwort war die Konzentration auf eine grundlegende theologische Neubesinnung, zu der vor allem Karl Barth die Initiative ergriff. Eine andere Antwort war der Versuch, ein neues betontes Selbstbewusstsein der Kirche zu entfalten. Das verbirgt sich hinter der Rede vom "Jahrhundert der Kirche" von Otto Dibelius. Aber auch die Berneuchener Bewegung ist als Reaktion auf die zu Beginn der 1920er-Jahre neu entstandene Lage der Kirche zu verstehen. Sie nahm den einzelnen Christenmenschen ernst und erinnerte ihn an seine ganz persönliche Verantwortung für die Kirche. Unter dem Leitsatz: "Wir können an der Kirche nur bauen, wenn wir selber Kirche sind" sollten solche Menschen gesammelt werden, die bereit und entschlossen waren, persönlich in diesem Sinne Verantwortung für die Kirche zu übernehmen.
Die gegenwärtige Kirchenkrise ist durch die noch immer anhaltenden Kirchenaustritte ausgelöst worden. Sie hat zu ähnlichen Verunsicherungen wie in den 1920er-Jahren geführt. Die Kirchenleitungen haben darauf, motiviert durch eine vor allem betriebswirtschaftliche Sichtweise, vorrangig mit strukturellen und organisatorischen Anpassungen reagiert. Die entscheidende Frage, welche Rolle die Kirche im Gesamtgefüge der Gesellschaft unter den sich ändernden Bedingungen spielen soll, bleibt damit aber bislang unbeantwortet. Ohne dass es bewusst wird, vollzieht sich nämlich in der Kirche selbst ein folgenschwere Wandel, und zwar von einer Volkskirche zur Mitgliederkirche. Da die Kirchensteuer zahlenden Mitglieder die finanzielle Grundlage der Kirche darstellen, richten sich alle Reformbemühungen darauf, sie als Mitglieder zu halten oder zurückzugewinnen. Statt in erster Linie "an Christi Statt und also im Dienst seines eigenen Wortes und Werkes durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk" (VI. These der Barmer Erklärung) steht nun die Sorge um die Mitglieder im Mittelpunkt kirchenleitender Planung. Da diese aber weiter austreten, stehen dafür - bei steigendem Verwaltungsaufwand - immer weniger finanzielle Ressourcen zur Verfügung. Dies wiederum führt besonders bei Pfarrerinnen und Pfarrern zur oft zu hörenden Feststellung, dass die Zeit der Volkskirche ja nun zu Ende gehe. Auch die Kirchenleitungen selbst planen stillschweigend nicht mehr im Sinne eine Volkskirche, als eine Kirche, die für "alles Volk" da ist, sondern im Sinne einer Kirche, die, gewissermaßen kundenorientiert, für die Mitglieder selbst da ist, und damit als Minderheitskirche. Dieses geschieht, ohne sich darüber ausreichend Rechenschaft zu geben, was wiederum anhaltende Verunsicherungen bei Mitgliedern und Nichtmitgliedern zur Folge hat, die auf Kosten der Anziehungsfähigkeit (Attraktivität) und Bedeutsamkeit der Kirche gehen. Mit einem massiven Aufwand an Öffentlichkeitsarbeit wird zuweilen der Versuch gemacht, diesen Attraktivitäts- und Bedeutsamkeitsverlust zu kompensieren.
Ich selbst kann mich an keine Zeit erinnern, in der in Kirchenkreisen die "Volkskirche" ein beliebtes Identitätsmerkmerkmal gewesen wäre. Man war es eben, aber man hatte es sich nicht ausgesucht. Oft wurde das Ideal etwa der gemeindebezogenen, "überschaubaren" Gemeinde dagegen gesetzt (z. B. Fritz Schwarz). Dennoch hatte man diese Rolle nolens volens, aber mit einer gewissen Selbstverständlichkeit wahrgenommen. Das ändert sich gerade, was von manchen geradezu als Befreiung erlebt wird. Endlich könne sich "die Kirche nun endlich aus der Konstantinischen Ära ihrer Volkskirchlichkeit" befreien und das „überlebte System“ hinter sich lassen (Reinhard Hempelmann). Alexander Deeg hat recht, wenn er "in diesen Jubel dezidiert nicht" einstimmt, genauso wenig wie Martin Luther bei seinen Invokavit-Predigten, nachdem Andreas Karlsstadt die Kirchen leergeräumt hat[1]
Im Gegenteil, der freiwillige Verzicht darauf, Volkskirche zu sein, ist vermutlich sogar hoch gefährlich. Katarína Kristinová[2] ("Was fehlt, wenn Gott fehlt? Ein Essay über die Menschlichkeit"; Dt. Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt 121 (2021), 743ff.) macht auf die Leerstelle aufmerksam, die sich zwangsläufig bildet, wenn die Kirche der Öffentlichkeit ihre Rede von Gott entzieht und auch sonst niemand mehr von Gott redet: "Ist nämlich Gott vertrieben oder tot, so fällt es dem Menschen zu, seine Stelle einzunehmen." (743) Damit ist er aber überfordert, "denn die Existenz des gottlos-gottgleichen Menschen findet statt im Modus einer kosmischen Obdachlosigkeit inmitten eines eiskalt gleichgültigen Universums... Mit der Entscheidung für die Gottlosigkeit werden wir nicht automatisch auch unsere Gottbedürftigkeit los". (744) Um die "überraschend fragile Selbstsicherheit vor derartigen Störungen zu schützen", vermeiden wir, uns dessen bewusst zu werden, auch mit Hilfe einer "Betäubungskultur durch Geschäftigkeit, Lärm und Konsum". Diese Verteidigungsstrategie ist aber verheerend, denn wir "brechen... die Verbindung zu denjenigen Bereichen unseres Selbst ab, die sich als Quellen der existentiellen Geistesgegenwärtigkeit erweisen und beschneiden damit uns selbst um die ihr innewohnenden (Existenz)-Möglichkeiten“ (744). Und es kommt noch härter, denn „der Glaube an die eigene Glaubenslosigkeit“ führt „zum enormen Anwachsen idolatrischer Strukturen und zur regelrechten Entfesselung ideologischer Empfänglichkeit“. Dann „schweben wir mehr denn je in der Gefahr… im Glauben an die eigene Gott-losigkeit neuen Göttern zu dienen, im Glauben an die Faktizität den als Fakten etikettierten Ideologien zu vertrauen und sich in eine als Freiheit angepriesene Manipulation und Unmündigkeit zu begeben.“ (745)
Wenn dem so ist, dann wäre es hoch fahrlässig und unverantwortlich, das Ende der Volkskirche herbeizusehnen oder auch nur gleichgültig hinzunehmen. Geradezu mutwillig würden die Menschen dann den Göttern und Götzen ausgeliefert und man fragt sich gelegentlich – ohne hier konkreter werden zu wollen – ob sich nicht dafür schon erste Anzeichen wahrnehmen lassen. Wenn die Volkskirche aus dem Leben der Gesellschaft entfernt werden soll, dann wird das nur gehen, wenn man sich darüber im Klaren ist, was an ihre Stelle treten soll. Dass die schon erwähnten betriebswirtschaftlichen, organisationstheoretischen und managementartigen Reformversuche unter dem Eindruck und im Gefolge von „Kirche der Freiheit“ (2006) hier gerade nicht für Klarheit gesorgt haben, dürfte hinlänglich deutlich sein. Die Dinge aber einfach so weiter laufen zu lassen, wird aber auch niemand mehr für angemessen halten.
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[1] Alexander Deeg, Die Kirche stirbt?, Zeitzeichen 2021 = Die Kirche stirbt? | zeitzeichen.net
[2] Katarína Kristinová, Was fehlt, wenn Gott fehlt? Ein Essay über die Menschlichkeit; Dt. Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt 121 (2021), 743ff.
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