Die "Berneuchener Regel" als Antwort auf die Krise der Volkskirche (3/5): Ruth von Kleist-Retzow

Jene mit dem 8. Mai 1945 für immer untergegangene preußisch-aristokratische Welt jenseits der Oder hat sich aber nicht nur für die Berneuchener Bewegung, sondern auch für die vor allem von Dietrich Bonhoeffer geprägte Bekennende Kirche als fruchtbarer Wurzelboden erwiesen. Gerade die Verbindung aus beidem, aus „Berneuchen“ und „Barmen“ gewissermaßen, war – und ist! – dazu geeignet, den aus preußisch-unierter Tradition stammenden Kirchen Seele und Identität zu geben.

Die Vertreter der Berneuchener Bewegung wie der Bekennenden Kirche standen sich mit großem Misstrauen gegenüber. Wilhelm Stählin wollte die Barmer Erklärung nicht unterschreiben und verstand sich selbst nicht als Teil der Bekennenden Kirche, weil er ihr Intoleranz und ideologische Ansprüche unterstellte. Dietrich Bonhoeffer sah in den Berneuchenern „gefährliche Reaktionäre“ und seine oft zitierte Äußerung: „Wer nicht für die Juden schreit, darf auch nicht gregorianisch singen“ zielte auf sie ab. Tatsächlich aber nehmen beide Seiten die Anliegen der jeweils anderen auf. Die von Stählin entworfene „Regel des geistlichen Lebens“ entspricht der IV. These der Barmer Erklärung und macht anschaulich, was mit der „Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes“ gemeint ist. Die Arbeit im Predigerseminar Finkenwalde und die kleine aus dieser Arbeit entstandenen Schrift „Gemeinsames Leben“ greift auf der anderen Seite eben das auf, was die Berneuchener „Regel“ beabsichtigt.

Wie sehr aber beides in dieser Welt östlich der Oder gedeihen konnte und wie zwei Seiten ein und derselben Sache zusammengehört, macht die die Lebensgeschichte von Ruth von Kleist-Retzow eindrucksvoll deutlich. Es ist das Verdienst der amerikanischen Autorin Jane Pejsa, sie durch ihr Werk „Matriarch of Conspiracy“ (1998), zu deutsch: „Mit dem Mut einer Frau“ (2012) dem erinnernden Bewusstsein erhalten zu haben.

Ruth von Kleist-Retzow wurde 1867 Tochter des Gutsbesitzers und hohen Regierungsbeamten Robert Graf von Zedlitz und Trützschler in Großenborau in Schlesien geboren. Die Familie pflegte gute Beziehungen zum Haus Hohenzollern und war dem preußischen König verpflichtet. Der Reichskanzler war bei Ruths Taufe zugegen.

Die Anwesenheit Otto von Bismarcks, des Architekten des deutschen Nationalstaats, bei Ruths Taufe ist von symbolischer Bedeutung für ihren gesamten Lebensweg. Ebenso zeugt die jahrhundertealte Verbindung zwischen ihrer Familie und der Familie ihres Mannes mit der preußischen und deutschen Monarchie von einer Loyalität, die die Monarchie selbst noch überdauerte.[1]

Diese Loyalität stand auch dann nicht in Frage, als es Zweifel an der Person gab, die das Amt des Königs innehatte.

In diesen Zeiten sagen die intellektuellen Pessimisten in Berlin… den Sturz des Kaisers und das Ende der Monarchie voraus. Solche Vorhersagen erfüllen Ruth mit tiefer Traurigkeit. Sie gibt zwar zu, dass Kaiser Wilhelm (II.) entscheidende Fähigkeiten eines Herrschers vermissen lässt; aus Roberts Zeiten am Hof weiß sie zu viele Details, um diese Tatsache übersehen zu können. Aber die Amtsführung eines einzigen Mannes ist nichts im Vergleich zu den fünf Jahrhunderten, in denen eine Ordnung entstanden ist, ein System, in dem jeder Mann und jede Frau einen festen Platz hat, der sowohl Pflichten als auch Privilegien einschließt. Über allem steht außerdem Gottes Wille. Eine weltliche Ordnung kann nur existieren unter der geistlichen, von Jesus Christus regierten Ordnung. Was die Zukunft auch bringt, Ruth wird bereit sein, die Monarchie gegen jede Gefahr zu verteidigen und ihre Pflicht zu tun, wie sie auch von ihren Kindern Hans Jürgen bis Ruthchen ganz sicher weiß, dass sie es ebenso tun werden.[2]

Die Monarchie, die feudale Ordnung, das Christentum bildeten ein in sich geschlossenes und abgerundetes Gesellschaftssystem, das dem Einzelnen seinen Platz zuwies und von ihm widerspruchslose Einwilligung und Einfügung verlangte. Mit dieser Welt war Ruth völlig im Einklang. Auch die – meist kinderreiche – Ehe und die Familie auf der Ebene der Adligen und Gutsbesitzer waren in dieses System integriert. All das war emotional von einem Bewusstsein der Dankbarkeit, des Gottvertrauens und des Verantwortungsgefühls geprägt.

1886 heiratete Ruth standesgemäß Jürgen von Kleist-Retzow, der aber bereits elf Jahre später kurz nach der Geburt des fünften Kindes starb, so dass Ruth schon mit 30 Jahren zur Witwe wurde. Mit den Jahren wurde sie im Blick auf das Gut Kieckow wie auf die Kinder und Enkel zu so etwas wie ein Oberhaupt und Zentrum der Familie.

1918 bricht dieses gesellschaftliche System zusammen. Die Flucht Wilhelms II. ins niederländische Exil wird als Verrat empfunden. Auch bei Ruth bewirkt dies Verunsicherung und Neuorientierung.

In dieser Zeit des Umbruchs empfindet sie es als Pflicht, ihre eigenen Werte und Ideen sowie die der Änderung unterworfenen politischen und sozialen Strukturen zu überdenken. Von Natur aus ist Ruth konservativ, aber sie zwingt sich, sich mit den Veränderungen, die ihre Welt befallen haben, zu beschäftigen, zu versuchen, die neuen Ideen zu verstehen und sie mit den alten zu vergleichen. Diese Aufgabe hat sie sich gestellt, nicht so sehr um ihrer selbst willen, sondern wegen ihrer Kinder und Kindeskinder.[3]

Die neu erfahrene Freiheit wirkt sich auch auf andere Bereiche in Ruths Denken aus; ihr lebenslanges Interesse an der Bibel und alles, was sich daraus entwickelt, wächst nun zu neuen Dimensionen heran. In den regelmäßigen Veröffentlichungen der pommerschen Kirche hat sie neue Tendenzen der Bibelinterpretation und neue Perspektiven für Kirche und Gesellschaft entdeckt. Diese Ideen haben ihre Neugier geweckt und sie ist selbst überrascht, wie leicht ihr die veränderten Auffassungen eingehen. Ruth beginnt zu verstehen, dass ihre Rolle in dem immer größer werdenden Familienkreis darin besteht, die Grundwerte – sowohl in religiöser als auch in weltlicher Hinsicht – umzustrukturieren. Grundwerte, auf denen diese Familie ihre ethische und moralische Tradition weiterentwickeln kann.[4]

Das ausgeprägte Verantwortungsbewusstsein, das diese preußischen Familien schon bisher gekennzeichnet hat, bleibt auch nach dem Umbruch von 1918 als Merkmal erhalten. In einer Mitte der 1920er-Jahre erschienenen Abhandlung hat Ruth dies reflektiert.

Ich nenne da als wichtigsten Faktor das Verantwortungsbewusstsein. Wir haben unseren Besitz nicht bekommen, um ihn für uns zu genießen, sondern wir sind zu Haushaltern Gottes über ihn eingesetzt. Jeder Gabe steht eine Verpflichtung gegenüber. Der Gabe des Gutsbesitzes begegnet ein Meer von Verpflichtungen. Alle darauf wohnenden Menschen, auch der Pastor, der Lehrer, die Bauern, sind darin eingeschlossen. Wo irgendeine Not, eine Unordnung, ein Unrecht in unserem Dorf ist, da sind wir verantwortlich. Für die Bewirtschaftung des Besitzes, seine Fruchtbarkeit, seine Entwicklung sind wir verantwortlich … Nein, so leicht und ganz so bequem, wie es den Anschein hat, ist das Leben des Gutsbesitzers nicht. Aber voller Aufgaben ist es – und voller Verantwortung. Zu erfüllen ist die Aufgabe nur dann, wenn wir uns mit den Menschen, die uns gegeben sind, eng verbunden fühlen, wenn sie uns mehr bedeuten als die Nummer in der Lohnliste, wenn wir auch in ihnen die lebendige Seele sehen, die uns anvertraut ist.[5]

Die Kirche, eine der wichtigsten Säulen dieses Systems, ist mit am stärksten von dem Umbruch betroffen und gezwungen zu prüfen, auf welchen Fundamenten sie steht. Es ist gewiss kein Zufall, dass es gerade die Umwelt ist, in der Ruth zu Hause ist, die zum Ort des Nachdenkens darüber wird, worauf es nun ankommt. Es ist ein Gut in der Neumark, das dieser Bewegung – bis in die Gegenwart – seinen Namen gibt: Berneuchen.

Berneuchen ist im Besitz der Familie von Viebahn, natürlich ebenfalls Mitglied der preußischen Aristokratie. In Berneuchen fanden innerhalb von drei Jahren Tagungen statt, die hauptsächlich von Geistlichen und Akademikern sowie einigen Laien besucht wurden. An der diesjährigen Konferenz nahmen 63 Personen teil, wovon 61 Männer und nur zwei Frauen waren. Eine der beiden Frauen war die Ehefrau eines geladenen Architekten. Die andere, die einzige, die um ihrer selbst willen eingeladen wurde, war Ruth von Kleist aus Klein Krössin. Sie nahm in Begleitung ihres Schwiegersohnes Hans von Wedemeyer aus Pätzig an der Tagung teil. (Unter den Teilnehmern war auch Dr. Paul Tillich, einer der großen Theologen des 20. Jahrhunderts.) Der Zweck der Treffen von Berneuchen besteht in der geistlichen Erneuerung der Evangelischen Kirche Deutschlands. Indem sie zurückkehren zu den Wurzeln des Christentums und der biblischen Lehre, hoffen die Männer und Frauen, die schwindende Lebenskraft der Kirche zu erneuern. In ihrer Suche nach Gott führen sie genaue Untersuchungen durch über die Rolle des Gebets, über liturgische Formen, über Musik und sogar über die Architektur von Kirchen. Damit hoffen sie, der Entfremdung der deutschen Jugend, dem Zerfall von Familie und Moral und dem Aufschwung sowohl rechts- als auch linksgerichteter revolutionärer Kräfte Einhalt gebieten zu können.[6]

Es werden gerade diese konservativen Familien der Kleists, der Wedemeyers, der Bismarcks, der Schlabrendorffs, der Tresckows und anderer sein, die mit einer Entschlossenheit, wie sie sonst kaum jemand aufzubringen in der Lage war, dem Nationalsozialismus entgegenzutreten, bis hin zur Bereitschaft, dafür sein Leben zu lassen. Bis es aber so weit ist, formiert sich zunächst noch ein anderer, gewissermaßen innerkirchlicher Widerstand gegen die Reichskirche, die sich anschickt, sich an die in der NS-Diktatur herrschenden Verhältnisse anzupassen. Deswegen werden für Ruth die Tagungen in Berneuchen und Pätzig in den Hintergrund treten. Zufällig lebt sie mit ihren Enkeln in der Nähe von Stettin nicht weit weg von Finkenwalde, wo die Bekennende Kirche provisorisch ein Predigerseminar eingerichtet hat, das von Dietrich Bonhoeffer geleitet wird. Die Gottesdienste, die dort gefeiert werden, sind öffentlich und werden regelmäßig von Ruth und ihren Enkeln besucht. Bonhoeffer ist von ihr beeindruckt.

Pastor Bonhoeffer ist erstaunt über Ruths Verbindungen in der kirchlichen Welt – die alte Dame kennt Harnack, Barth, Tillich und die Berneuchener Zusammenkünfte – und über ihre Kenntnis der Protagonisten und der Fragen, welche die Kirche in diesem Jahrhundert beschäftigen. Gleichzeitig scheint in ihr jedoch auch eine Ruhelosigkeit zu stecken, die mit einer Unzufriedenheit mit dem, was als Theologie des 20. Jahrhunderts gilt, und ihrer Suche nach einer höheren Wahrheit zusammenhängt… Sein pädagogisches Gespür lässt ihn jedoch in Frau von Kleist einen scharfen Verstand erkennen, der auf neue Lehren ansprechen wird wie ein Gefäß, das zum Füllen bereitsteht, und eine Seele, die durch die nationalsozialistischen Minenfelder der Kirche geleitet werden sollte.[7]

Zwischen Ruth und Bonhoeffer entsteht eine enge Freundschaft. Sie unterstützt ihn nach Kräften, quartiert seine Gäste ein, auch Juden, die auf ein Visum zur Ausreise warten, liest und bespricht mit ihm seine Manuskripte der „Nachfolge“ und der „Ethik“. Die Biographie von Jane Pejsa lässt nicht ganz deutlich werden, wie weit sie in die Aktivitäten des Widerstands einbezogen ist. Unmittelbar war sie daran wohl nicht beteiligt, aber sie dürfte sich im Klaren darüber gewesen sein, was da vor sich ging und war die Vermittlerin der Kontakte zwischen Bonhoeffer und den Widerständlern. Sie als „Matriarchin des Widerstands“ zu bezeichnen, dürfte die Vorgänge nicht ganz treffen, wohl aber war sie eine Matriarchin jener konservativ-militärischen Kreise, in denen der 20. Juli 1944 und die vorher gescheiterten Attentate vorbereitet wurden.

Sie starb 1945 nur wenige Wochen nach dem Einmarsch der Russen, nachdem ihr jüngste von Tochter Ruth (Ruthchen) von Wedemeyer noch einmal zurück aus Westfalen gekommen ist und sie noch lebend vorgefunden hat[8]. Ohne dass sie sich selbst in der Öffentlichkeit zu Wort meldete oder in Erscheinung trat, trug Ruth von Kleist-Retzow maßgeblich dazu bei, dass östlich der Oder in den 1920er- und 1930er-Jahren auf einzigartige Weise, wie sonst selten seit den Tagen der Reformation sichtbar wurde, was die Evangelische Kirche sein könnte und müsste. Die preußisch-unierte Kirche gewinnt hier ihr eigentümliches Profil, dass bisher bisher so schmerzlich vermisst wurde und das – das ist die Tragik der Geschichte – nach 1945 auch wieder verloren geht.

 

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[1] Jane Pejsa, Mit dem Mut einer Frau. Ruth von Kleist Retzow – Matriarchin im Widerstand, 2021, Seite 7 (Vorwort)

[2] Pejsa, Seite 123

[3] Pejsa, Seite 156

[4] Pejsa, Seite 150

[5] Pejsa, Seite 163

[6] Pejsa, Seite 162

[7] Pejsa, Seite 204f.

[8] v. Wedemeyer, Seite 202ff.

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