Wie 1938

Betrachung zu Psalm 46 beim "Wochenende zum Frieden Gottes" in der Kirche zum Frieden Gottes in Bergisch Gladbach, 18. März 2022.

 

Wir müssen gestehen, dass der 24. Februar 2022 auch uns evangelische Christen kalt erwischt hat. Als klar wurde, dass die russische Armee in der ganzen Ukraine einmarschierte, war jedem unmissverständlich deutlich: Ja, das, was wir erleben, ist eine Zeitenwende, wie es der Kanzler ausgesprochen hat. Bis dahin wollten und konnten wir glauben, dass Friede möglich war, dass er zwar weiterhin enorme Anstrengungen verlangt, aber die hätten wir leisten können. Auch die sogenannten „Putin-Versteher“ wollten sich nicht einfach bei Putin einschleimen. Sie wollten ihm die Angst vor dem Westen und vor der NATO nehmen. Sie wollten Vertrauen schaffen, was weitere Abrüstungsschritte möglich gemacht hätte. Seit der Wiedervereinigung haben wir geglaubt, wir hätten das Privileg, „von Freunden umzingelt“ zu sein. Das ist, was die unmittelbare Nachbarschaft betrifft, noch immer richtig, aber Europa besteht nicht nur aus direkten Nachbarn. Wir hatten bis zum 23. Februar nicht geglaubt, dass es einen 24. Februar gibt. Aber nun ist klar, dass Putin nicht von der Angst vor dem Westen angetrieben wurde, für die es seit Gorbatschow ja auch keinen wirklichen Grund gab, sondern von seinem imperialistischen Machtträumen. Das hatten wir nicht erwartet. Aber nun ist es so, und wir wissen nicht, wie wir damit umgehen. Uns treibt die Angst um, irgendwann könnte es auch uns betreffen. Wir schauen uns den Krieg, wie wir es gewohnt sind, nicht mehr nur aus der Zuschauerperspektive an, wie das noch im Irakkrieg möglich war. Vielmehr ist der Krieg in unsere unmittelbare Nähe gerückt. Bis zuletzt haben wir versucht uns rauszuhalten.

 

Präsident Zelensky hat sich im Bundestag bitter über Deutschland beklagt. Ob zu recht oder nicht, ist gar nicht mal so entscheidend. Entscheidend ist vielmehr die Erkenntnis, dass wir, das Deutschland sich so oder so schuldig macht. Unterstützen wir die Ukrainer in dem Umfang, wie sie es sich wünschen, riskieren wir fast zwangsläufig den dritten Weltkrieg. Aber wir halten uns zurück, Deutschland und die NATO engagiert sich nicht, den ukrainischen Luftraum sauber zu halten, und verhindert damit nicht, dass es weitere Tausende von Toten, Schwerverletzen und Schwerbehinderten in den Großstädten der Ukraine gibt. Was ist richtig? Wenn wir ehrlich antworten, müssen wir sagen, nichts ist richtig.

 

Was mich erschreckt, sind die Parallelen zu 1938. In der Ukraine ging es zunächst um die Krim, um Donezk und Luhansk, damals ging es um Österreich, dann um das Sudetenland, also die deutschsprachigen Randgebiete Tschechiens. Putin geht es heute in Wahrheit um die ganze Ukraine, Hitler ging es damals nicht nur um die deutschsprachigen Gebiete, sondern um ganz Tschechien („Tschechei“ sagte man damals). Der Westen versuchte bis zum 24. Februar alles, um auf diplomatischer Ebene im Gespräch zu bleiben und den Krieg zu verhindern. Das war damals nicht anders. Die Tschechoslowakei hoffte damals, so wie heute die Ukraine auf die Unterstützung durch die demokratischen Staaten Westeuropas, aber die blieb aus. Mit dem Münchner Abkommen, an dem die Tschechoslowaken nicht beteiligt waren, hatte man die Hoffnung, den Frieden im letzten Augenblick gerettet zu haben. Aber im März 1939 wird Tschechien überfallen, aufgelöst und unter die Kontrolle Deutschlands gebracht. Und der Westen tat nichts.

 

Karl Barth, dessen theologische Karriere mit dem Entsetzen über Militarismus und Hochrüstung vor und während des ersten Weltkriegs begann, schrieb in dieser Zeit, genauer am 19. September 1938, einen Brief an seinen Kollegen Hromadka in Prag. Er kam darin auch auf die politische Lage zu sprechen. Karl Barth schrieb: „Das eigentlich Furchtbare ist ja nicht der Strom von Lüge und Brutalität, der von dem hitlerischen Deutschland ausgeht, sondern die Möglichkeit, dass in England, Frankreich, Amerika - auch bei uns in der Schweiz - vergessen werden könnte: mit der Freiheit Ihres Volkes steht und fällt heute nach menschlichem Ermessen die von Europa und vielleicht nicht nur von Europa. Ist denn die ganze Welt unter den Bann des bösen Blickes der Riesenschlange geraten? Dennoch wage ich es zu hoffen, dass die Söhne der alten Hussiten dem überweich gewordenen Europa dann zeigen werden, dass es auch heute noch Männer gibt. Jeder tschechische Soldat, der dann streitet und leidet, wird es auch für uns - und, ich sage es heute ohne Vorbehalt: er wird es auch für die Kirche Jesu Christi tun, die in dem Dunstkreis der Hitler und Mussolini nur entweder der Lächerlichkeit oder der Ausrottung verfallen kann.“

 

Und Dietrich Bonhoeffer, der auf ökumenischer Ebene intensiv mit der Friedensfrage beschäftigte, schrieb schon 1933 angesichts der sich abzeichnenden antisemitischen Umtrieben in einem Aufsatz unter dem Titel: „Die Kirche vor der Judenfrage“, dass man bereit sein müsse, „nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen“ und zog im Krieg entsprechende Konsequenzen und nahm am Widerstand teil und Gewalt – auch an Nichtbeteiligten – in Kauf.

 

Schon damals wie offensichtlich auch heute waren aus den kirchlichen Friedensbemühungen ein Scherbenhaufen geworden. Wie gehen wir damit um? Wie gehen wir mit unserer Verantwortung um und mit unsere Angst? Wie gehen wir mit den Politikern um, die Entscheidungen zu treffen haben, mit den Soldaten, mit allen die möglicherweise in nächster Zeit in den Krieg verwickelt werden? Wir können nicht einfach da sitzen und abwarten, bis die dunklen Wolken sich wieder verziehen.

 

Wir alle „begehren, nicht schuld zu sein“ wie Matthias Claudius gedichtet hat und sehen doch, wir werden hineingezogen in die Verantwortung. Denn auch wenn wir nichts tun, sind wir verantwortlich. Wir werden uns zwei Wahrheiten vor Augen halten müssen, eine bittere und sind tröstende.

 

 

Die bittere Wahrheit ist, wir werden keinen Krieg aufhalten. Die Entscheidung über Krieg und Frieden treffen andere, nicht wir, nicht die Kirchen. Es werden aber immer wieder Christinnen und Christen sein, die darin involviert sind, wie auch immer, Christinnen und Christen, die sich möglicherweise durch ihr Gewissen veranlasst sehen, zur Waffe greifen, etwa um die Freiheit zu verteidigen, die eigene oder die anderer. Was sagen wir ihnen, wenn sie unser Gehör erbitten, wenn sie uns fragen? Was sagen wir Menschen, die nie Krieg wollten und sich plötzlich in ihm vorfanden, so wie jetzt? Wir können sie allein lassen mit Formeln wie nie wieder Krieg oder Frieden schaffen ohne Waffen.

 

Wir können sie aber auch trösten mit der anderen Wahrheit: Wir werden keinen Frieden aufhalten. Das beschreibt der 46. Psalm. Mitten in den „großen Nöten, die uns getroffen haben“, wo die “Brünnlein“, bei denen es „fein lustig“ zugeht, von denen später die Rede ist, noch weit weg sind, erzählt er, wie Gott den Frieden schafft. Der Friede ist keine Forderung, er ist ein Versprechen. Alles, was Gott schafft, das lässt er wachsen. Und „Glauben“ ist nichts anderes, als es wachsen zu lassen. Wir machen keinen Frieden, wir lassen ihn wachsen, wir lassen ihn zu. Er beginnt mit dem, was das erste Opfer jeden Krieges ist, (was bei diesem Krieg besonders der Fall ist), die Wahrheit, die ehrliche, aufrichtige, schonungslose Wahrheit. Die Wahrheit, die weder verurteilt noch rechtfertigt, sondern nur anschaut, wie die Dinge sind, wie wir sind, wie die Welt ist, wie ich bin. Und wie Gott die Welt ansieht, der sie mit sich versöhnt hat und unter uns das Wort der Versöhnung aufgerichtet hat. Und hier sind wir, sind die Kirchen dann wirklich gefragt, denn wie soll wer glauben, dass die Welt und wir mit ihr versöhnt sind und dass tatsächlich längst Frieden herrscht, wenn es niemand verkündet? So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott (2. Kor 5,20).

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