Warum der Synodale Weg... 4/6

Die Inkarnation als Mittelpunkt des katholischen Gottesdienstes

 

Die Inkarnation bzw. die Menschwerdung Christi kann als Mittelpunkt des katholischen Lebens und Gottesdienstes bezeichnet werden. Dass "sich der dreifaltige Gott durch das Wort im Menschen Jesus von Nazareth inkarniert" hat und in Jesus von Nazareth "in der Einheit seiner Gottheit und Menschheit" die innere Dynamik "in der Begegnung von Gott und Mensch inmitten der geschichtlichen Lebenswelt" zum Ausdruck kommt  ist das "reale Geschehen der Erlösung durch das Wirken der Kirche im Auftrag Jesu in der Kraft des Heiligen Geistes", das "mittels der Wortverkündigung, der Spendung des göttlichen Lebens in den Sakramenten, einer Lebensgestaltung im Geist der Nachfolge Jesu und der Teilhabe am Gemeinschaftsleben der Kirche" präsent ist  (Ludwig Gerhard Müller, Katholische Dogmatik, 2014, 257) und im Gottesdienst "präsentiert", also vergegenwärtigt wird. Diese Begegnung von Gott und Mensch nimmt in den Sakramenten "sichtbare Gestalt an". Die Menschwerdung Gottes in Christus und bedeutet zugleich Rechtfertigungsgnade, sie wird in den Sakramenten gewissermaßen verobjektiviert, denn diese wirken aus sich heraus ("ex opere operato"), ihre Wirklichkeit und Gültigkeit sind unabhängig davon, in welcher Verfassung sich Spender und Empfänger sich gerade befinden (633; 642). Die Rechtfertigungsgnade wird durch die Sakramente "als Befähigung zur Annahme der Selbstmitteilung Gottes" mitgeilt (636). Anders als in der evangelischen Auffassung wird nach Thomas von Aquin das Sakrament nicht erst durch den Glauben zu einem solchen, vielmehr wird der Glaube durch erst durch das Sakrament empfangen (637). In diesem Sinne ist die Gnade ein "übernatürliches Etwas", das von Gott in die Seele gelegt wird (638). Während wiederum im evangelischen Verständnis das Sakrament durch Wort, Zeichen und Glauben konstituiert wird, tritt in der katholischen Kirche "die Person des Spenders, der das Sakrament erteilt in der Absicht zu tun, was die Kirche tut" an die Stelle des empfangenden Glaubens (642). Diese Charakter der Rechtfertigungsgnade als ein "übernatürliches Etwas", also als etwas Vorhandenes, gegenständlich Denkbares ermöglicht es, ihre Präsenz in Gestalt der in der Messe konsekrierten Gaben dauerhaft und damit, als "Allerheiligstes", zum Gegenstand der stillen Anbetung auch außerhalb der gottesdienstlichen Zeiten zu machen. Das wirkt sich auf das Verhalten der Gläubigen schon beim Betreten einer Kirche aus; sie betreten sie im Bewusstsein, dass sie sich nun in einem heiligen Raum befinden, der ein angemessenes Verhalten erfordert.

 

Auch aus evangelischer Sicht lässt sich dieses quasi-objektive Verständnis von Gnade, Inkarnation und der Anwesenheit Christi durchaus als Stärke des katholischen Gottesdienstes verstehen, und zwar deswegen, weil es von der jeweiligen inneren und äußeren Verfassung der Beteiligten und Anwesenden unabhängig gedacht werden kann. Gott ist da, die Gnade ist da, Christus ist gegenwärtig, nicht nur im Rahmen eines gottesdienstlichen Geschehens, sondern dauerhaft. Auch wir Evangelischen nehmen, unwillkürlich oder bewusst, darauf in der Regel Rücksicht, wenn wir eine katholische Kirche betreten. Eine katholische Kirche hält also, und das dauerhaft, eine andere, eine durchaus konzentriertere Atmosphäre bereit als eine evangelische.

 

Die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus hat ihr Ziel in der Rechtfertigung des Menschen. Menschwerdung und Rechtfertigungsgnade werden in den Sakramenten vergegenwärtigt und vergegenständlicht. Die Rechtfertigung geschieht, indem der Mensch die Sakramente empfängt. Zwar ist Gott in seiner Freiheit im Blick auf die Rechtfertigung des Menschen nicht an die Sakramente gebunden, aber der Empfang der Sakramente als Repräsentation der Menschwerdung und der Rechtfertigungsgnade ist gewissermaßen der reguläre Weg.

 

Die evangelische Sicht unterscheidet sich dadurch, dass der Mensch nicht erst gerechtfertigt wird, sondern schon ist. In dem Weihnachtslied von Paul Gerhardt singen wir: "Da ich noch nicht geboren war, da bist du mir geboren und hast mich dir zu eigen gar eh' ich kannt', erkoren. Eh' ich durch deine Hand gemacht, da hast du schon bei dir bedacht, wie du mein solltest werden. Ich lag in tiefster Todesnacht, du warest meine Sonne, die Sonne, die mir zugebracht Licht, Leben, Freud und Wonne…" (EG 37,2.3). Im evangelischen Sinn ist die Rechtfertigung kein Geschehen, sondern eine bereits vollendete Tatsache. Wir werden nicht gerechtfertigt, wir sind es. Gott hat sich in Christus mit uns versöhnt (2. Kor 5,18), nicht nur uns als einzelne Menschen, sondern die ganze Welt, "denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung" (2. Kor 5,19). Der Mensch empfängt die Rechtfertigung nicht (erst) durch die Sakramente, vielmehr bestätigen diese ihm die Rechtfertigung als bereits geschehene, vollendete, irreversible Tatsache. "Sie geschieht ohne menschliche Vorleistung und kann durch kein menschliches Verhalten außer Kraft gesetzt werden." (Wilfried Härle, Dogmatik, 4. Auflage, 2012, 559) Es muss zwingend mit dem Wort verbunden sein, da das Sakrament nicht wortlos und stillschweigend aus sich heraus Glauben schafft; der Glaube ist vielmehr eine Reaktion auf das Wort, das das Sakrament zu einem solchen macht. So sehr also die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus das Zentrum des katholischen Gottesdienstes ist, so sehr ist das Zentrum des evangelischen Gottesdienstes das Wort, die "Urteilsverkündung" gewissermaßen, der Freispruch, die Verkündigung der geschehenen und irreversiblen Rechtfertigung. Ohne dass dies geschieht, würde sich der Glaube schnell verflüchtigen und die Rechtfertigung im Dunkel des Vergessens verschwinden. Wort und Sakrament - wobei das Sakrament nicht an sich wirkt, sondern durch das mit ihm verbundene Wort - dienen dazu, dieses Vergessen zu verhindern. "Das christliche Leben unter den Bedingungen von Anfechtung, Zweifel, Sünde" bedarf "immer wieder neu der Vergewisserung und Bestätigung." (Härle, 559) 

 

Es sind im besonderen zwei Kennzeichen, die den Charakter des evangelischen Gottesdienstes besonders verdeutlichen. Zum einen gibt es in der evangelischen Kirche kein "Allerheiligstes". Dafür liegt stets eine aufgeschlagene Bibel auf dem Altar. Es ist das Wort, das Gott geredet hat und das gilt, in Kraft ist und nicht wieder leer zu ihm zurückkommen wird, sondern tun wird, was mir gefällt, und dem gelingen wird, wozu er es sendet (Jes 55,11) und durch dass er in einer evangelischen Kirche präsent ist. Die geschriebene Bibel verbindet die Gegenwart mit der Zeit und mit dem Geschehen, in dem dieser Worte ausgesprochen und bzw. oder niedergeschrieben wurden. Die offene Bibel macht die Kirche und den Raum zwischen Altar, Kanzel und Taufbecken zu einem heiligen Ort, dem Ort, an dem sich die Verkündigung und der Segen ereignet, ebenso aber auch die Anrufung des Namens Gottes, bzw. die Anrufung Gottes im Namen Jesu. Das wird durch das zweite Kennzeichen unterstrichen, das für einen evangelischen Gottesdienst typisch ist: Wenn die die Gemeinde das Vaterunser spricht, läuten die Glocken. Sie unterstreichen damit die Anrufung Gottes durch die Gemeinde. Dieses Ineinander des verkündeten Wortes Gottes und der Anrufung seines Namens sind Herzstück des evangelischen Gottesdienstes. 

 

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