Sonntagsmeditation: Liebe Frau Käßmann...

Röm 11,32 - 12. Juni 2022 (Trinitatis), Reihe IV: "Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme."

 

... ich kann Sie nur beglückwünschen. Sie sind nicht in der Gefahr, Außenministerin zu werden oder Verteidigungsministerin. Sie werden keine leitende Stellung bei der Bundeswehr bekommen und wohl sonst auch keine Stellen einnehmen, in der sie über Krieg und Frieden, Leben und Tod entscheiden müssten. Sie müssen nicht befürchten, dass von ihnen getroffene Entscheidungen womöglich fatale Folgen haben, die auf ihrem Gewissen liegen. Sie geraten nicht in die Gefahr, Anordnungen geben zu müssen, von denen unter Umständen Menschenleben abhängen. Menschenleben, die ohne solche Anordnungen noch gelebt würden. Sie brauchen nicht nachts aufzuwachen, und die Gesichter derer, die noch leben könnten, schauen sie entsetzt und voller Fragen und Vorwürfe an: Warum? Warum ich? Warum du?

 

All das bleibt ihnen erspart. All das nehmen andere auf sich, und Sie können sich entspannen und haben viel Zeit, sich dem Pazifismus zu widmen. Mit dem wecken Sie viel Sympathie und durch ihn haben Sie viele Freunde. Ich kann mir denken, dass dies etwas zutiefst Befriedigendes an sich hat. Viele hören ihnen gerade deswegen zu. Weil Sie, wie sie denken, etwas zu sagen haben. Etwas gegen Krieg, Waffen und Sterben. Das hören die Leute gerne und sie fühlen sich bestätigt. Das ist also schon eine Art seelsorgerlicher Dienst, den Sie da für viele leisten. Die werden später einmal sagen können: "Hätten die damals nur auf Frau Käßmann gehört!"

 

Da haben Sie doch eine sehr viel befriedigendere Rolle als die Angehörigen des Bundestages, die Entscheidungen treffen müssen, die sie - so oder so - verantworten müssen oder Angehörige der Bundeswehr, die sie - so oder so umsetzen müssen. Während Sie in ihrem guten pazifistischen Gewissen ihren Frieden finden, müssen diese sich möglicherweise ein Leben lang fragen, wie sie fertig werden können mit dem, worin sie verstrickt waren. Während Sie es nicht aussprechen müssen, dass Sie es immer besser gewusst haben, weil sie dies überall einfach stillschweigend voraussetzen können, müssen die sich ein Leben lang fragen und fragen lassen, ob es noch anders doch richtiger gewesen wäre, ohne je darauf eine Antwort zu kriegen.

 

Um daran keine Zweifel aufkommen zu lassen, ich weiß auch beim besten Willen nicht, was gut ist, ob es richtig ist, Waffen zu liefern oder Waffen zu verweigern. Woher und warum sollte ich das auch wissen? Aber ich versetze mich in die Seele derer, von denen erwartet wird, dass sie Antwort auf die Gewalt geben, und wehe ihnen, sie drücken sich davor und entziehen sich diesem Auftrag. Und wenn diese nun fragend, zweifelnd, verzweifelnd oder verzweifelt in unsere evangelischen Gesichter schauen und nur zu hören bekommen, s'ist Krieg, s'ist Krieg, und ich begehre, nicht schuld daran zu sein? Wie zynisch muss denen das vorkommen und wie alleingelassen müssen die sich dann fühlen!

 

Nehmen wir an, die Ukraine ließe sich retten, zumindest teilweise, und nehmen wir an, dieser Krieg ginge zu Ende. Was werden wir den Ukrainern sagen? Danke, dass ihr den Kopf hingehalten habt für unsere Freiheit? Dass ihr Widerstand geleistet habt, so dass der Krieg nicht bis zu uns gekommen ist? Dass wir ungestört für unseren Pazifismus werben konnten? Oder werden wir sie fragen, warum sie überhaupt gekämpft haben? So viele Menschenleben hat das gekostet! Wäre Gewaltlosigkeit nicht für Alternative gewesen? Dann werden die Ukrainer uns anschauen - was werden sie dann denken oder sagen?

 

Oder aber die Ukraine geht verloren und wird zu einem Teil des russischen Imperiums. Werden wir dann sagen, warum haben die Ukrainer dann überhaupt gekämpft? Wäre es nicht besser gewesen, sie hätten gleich kapituliert? Und wäre dann Frieden gewesen? Und was wäre der Preis dafür?

 

Wie wir es auch drehen und wenden, wir werden es nicht verhindern, dass auch an pazifistischen Händen, auch an unseren evangelischen Händen Blut klebt. Dass andere die Drecksarbeit machen, während wir unbefleckt durchs Leben wandeln, das wird so nicht funktionieren. So, wie wir, die wir jetzt Mitte sechzig sind, Profiteure des kalten Krieges waren, werden wir nun, ob wir wollen oder nicht, zu Profiteuren des Ukraine-Krieges. Es wird uns nicht zustehen, mit Fingern auf die zu zeigen, die am Krieg Schuld tragen, weil wir selbst an ihm schuldig geworden sind.

 

Am Ende des zweiten Weltkriegs hat niemand mehr gesagt, hätten wir doch nicht zu den Waffen gegriffen. Aber es hat ebenso niemand gesagt: ich bin frei von Schuld und habe niemanden auf den Gewissen. Und doch bin ich, elf Jahre danach geboren, anders als meine Eltern, aufgewachsen, ohne vor Angst gelähmt in Luftschutzkellern sitzen zu müssen, nachts vor Alpträumen schweißgebadet aufzuwachen, ohne, wie meine Mutter, um die toten Geschwister zu trauern. Und es kann doch nicht ganz abwegig sein zu sein, zu sagen, dass ich das auch konnte, weil die Alliierten uns befreit haben. Dafür mussten sie Krieg führen. Oder sollen wir den 8. Mai nicht mehr "Tag der Befreiung" nennen?

 

Wir sind als evangelische Kirche nicht die Besseren oder die besser Wissenden. Wir sind als evangelische Kirche diejenigen, die um ihre Verantwortung, ihr Scheitern und ihr Schuld wissen. Das macht uns fähig, solidarisch an der Seite derer zu stehen, die, ebenso wie wir um ihre Verantwortung, ihr Scheitern und ihr Schuld wissen. Wir können ihnen sagen, das wir, wir alle, Teil der gescheiterten Menschheit sind, Teil der von Gott mit der Bewahrung und Bebauung seiner Schöpfung beauftragten Menschheit. Wir können ihnen das getrost und gelassen sagen, weil das nicht das letzte Wort ist. Paulus fasst seine im Römerbrief über viele Kapitel angestellten Überlegungen in diesem Fazit zusammen, das Teil des Predigttextes für den kommenden Trinitatis-Sonntages ist (Rom 11.32): "Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme."

 

Damit Gott sich aller erbarme: Liebe Frau Käßmann, Sie mit ihrem Pazifismus und ich mit meinen Zweifeln, was überhaupt richtig ist, wir sind, ob wir wollen oder nicht, Teil der gescheiterten Menschheit. Wir werden, auch wir, dafür Rede und Antwort stehen müssen. Aber wir sind ebenso Teil der Menschheit, die, so, wie wir Evangelischen das glauben, Gott nicht aufgegeben hat. Mitten im Chaos, mitbringen im Untergang wächst schon das Neue. Es ist unsere Berufung, darauf zu achten und es so sichtbar werden zu lassen. Sonst glaubt es keiner. Wenn nicht einmal wir das tun.

 

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