Der bayrische Landesbischof und frühere Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm geht in einem Facebook-Post vom 24. Juni 2022 davon aus, "dass die Erwartungen an die Kirche hoch sind als einer Institution, die eine Orientierung geben kann die so viele Menschen heute suchen."
Das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD geht vom Gegenteil aus.
"Der eigentlichen Grund" für die vielen Kirchenaustritte "ist die fehlende Bindung an die Kirche und Glaube", sagt eine repräsentative Studie dieses Instituts laut Westdeutscher Zeitung vom 28. Juli 2022. "Es geht den meisten nicht um das eingesparte Geld, es geht um die fehlende Plausibilität der Mitgliedschaft in der Kirche", heißt es dort. Das ist exakt der Punkt, auf den wir, beispielsweise im Evangelischen Pfarrverein im Rheinland und beim "Kirchenbunt" seit vielen Jahren hinweisen, ohne ernst genommen zu werden. Ich habe aufgehört, die Menschen zu zählen, die ich kenne und die einmal in der evangelischen Kirche aktiv waren oder dort Heimat hatten, denen aber nun die Kirche fremd geworden ist und denen sie nichts mehr sagt
Die großen Kirchen scheinen zu immer komplexeren Gebilden zu werden, die sich kaum noch steuern lassen und mit denen sich zu identifizieren immer schwerer fällt. Es mag deswegen ein wenig weit hergeholt sein, von der Einfachheit und Schönheit der Kirche zu reden, geschweige denn von ihrer Faszination und Ausstrahlung. Gerade deswegen tue ich das hier. Es sind nur wenige Grundregeln, die zu beachten sind, damit die Kirche entstehen, wachsen und gedeihen kann. Sechs Fragen sind es, auf die wir Antwort geben. Je mehr Menschen das je für sich tun - dann aber auf alle sechs - um so mehr erwächst die Kirche aus ihrem Glauben.
Diese sechs Fragen lauten:
Wie werde ich gelassen? Gelassenheit ist Zentrum und Herzstück des Glaubens. Loszulassen, sich lösen zu können, setzt ihn frei. Die schönsten Momente eines Lebens sind die, in denen sich Gelöstheit und Tiefen-Entspannung einstellt. Die Menschen, denen Autorität und Ausstrahlung zu eigen sind und an denen man sich gerne orientiert, sind solche, die in sich ruhen. Gelassenheit stellt sich zuweilen, manchmal überraschend, von selber ein. Aber man kann sie - mit Ausdauer und Geduld - auch einüben und zum Habitus werden lassen. Das hat zur Voraussetzung, dass die Christinnen und Christen wissen, worauf oder auf wenn sie sich verlassen und ihr Vertrauen setzen können. Das führt zur zweiten Frage:
Worauf oder auf wen setze ich mein Vertrauen? Entweder übernehmen sie die Antwort auf diese Frage, oft ohne sie zu reflektieren, von ihren Eltern und der Umgebung, in der sie aufgewachsen sind. Oder aber sie entscheiden sich bewusst, worauf und auf wen sich verlassen können und wollen, etwa auf Grund einer bestimmten Begegnung oder Erfahrung. So oder so müssen sie die Geschichte dessen kennen, dem sie sich anvertrauen. Für die Christinnen und Christen ist dies der Gott Israels, von dem sie bekennen, dass er die Welt geschaffen hat, dass er ihnen in Jesus begegnet ist und sie heute noch im Heiligen Geist bewegt. Seine Geschichte wird in den biblischen Schriften dokumentiert, in denen sie deswegen immer wieder lesen und die sie gründlich studieren. Doch kann man niemandem vertrauen ohne zugleich im Gespräch mit ihm zu sein. Das führt zur dritten Frage:
Wie spreche ich mit Gott und er mit mir? Sie sprechen mit Gott so, wie sie auch mit Menschen reden, in ihrer Sprache, wie sie sich auch sonst auszudrücken pflegen. Das Gebet dient aber nicht nur dazu, vor ihm auszusprechen, was sie bewegt und beschäftigt. Es richtet ebenso die Aufmerksamkeit auf das, was Gott ihnen sagt, was sie ohne das Gebet nicht wahrnehmen würden. Er bedient sich dazu, ebenso wie sie selbst, seiner Sprache, die sie aber verstehen werden. Das geschieht oft nicht sofort, manchmal auch für lange Zeit nicht, aber irgendwann geschieht es, so oder so. Das ist der Moment, in dem sie in die Geschichte, die von der Heiligen Schrift dokumentiert wird, selbst eintreten und in der sie dann vorkommen. Das wiederum setzt voraus, dass sie sich nicht nur in der Vergangenheit abgespielt hat, sondern sich in der Gegenwart ereignet. Sie wird vergegenwärtigt, was im Gottesdienst geschieht. Das führt zur vierten Frage:
Mit wem feiere ich Gottesdienst? Man kann ihn, etwa zu Hause, zu zweit oder dritt (Mt 18,20), oder in der Kirche unter -zig, unter Hunderten und Tausenden, im Freien oder im Stadion feiern. Aber es ist immer das gleiche, was dort geschieht: Sie rufen Gott an im Namen Jesu, sie verkünden sein Wort an die Menschen, sie vergewissern sich des Neuen Bundes, den er mit ihnen geschlossen hat und den sie in Taufe und Abendmahl bekräftigen und erneuern, und sie segnen Menschen und lassen sich segnen. Der Gottesdienst ist nicht den Ordinierten oder Geweihten, sondern den Getauften anvertraut, die ihr Priestertum und damit ihre Verantwortung wahrnehmen. Das führt zur fünften Frage:
Für was und wen übernehme ich Verantwortung? Die Vergegenwärtigung der von den biblischen Schriften dokumentierten Geschichte Gottes mit den Menschen geschieht im Gottesdienst, der das Herzstück des Dienstes ist, mit dem sie in der Welt in Leben, Tat und Wort bezeugt wird. Er ist denen anvertraut, die sich zu ihr bekennen und damit auch zu dem Ruf in die Nachfolge Jesu, der damit an sie ergangen ist. Gemäß den eigenen Fähigkeiten und Begabungen nehmen Sie diesen Auftrag wahr. Sie sind präsent und achtsam, dienen damit den Menschen, der Kirche und übernehmen Verantwortung im öffentlichen Leben und in der Demokratie. Das tun sie gemeinschaftlich und im Zusammenwirken mit anderen. So bleiben sie mit ihrem Glauben nicht allein. Das führt zur sechsten Frage:
Mit wem teile ich meinen Glauben? Auch Christinnen und Christen geraten immer wieder in Krisen, sie scheitern und werden (wie Luther das nannte) "angefochten". Sie bleiben mit ihrem Glauben nicht alleine, sie teilen ihn miteinander, nehmen sich wahr, stehen sich bei, achten aufeinander, sind füreinander präsent. Der Glaube führt stets in die Gemeinschaft der Glaubenden, da er in der Einsamkeit gefährdet ist. Wer glaubt, spricht mit anderen Glaubenden über den Glauben, so klärt sich, was fragwürdig ist und wird gestärkt, was sonst fragil bleibt. Voraussetzung dafür und Folge davon ist das gegenseitige Vertrauen, das immer wieder gepflegt, erneuert und gestärkt werden muss. Das gegenseitige Vertrauen ist nicht abtrennbar vom Vertrauen zwischen Gott und Mensch. Das führt zur ersten Frage.
Je Menschen auf diese sechs Fragen Antwort geben (es müssen dann alle sechs sein), umso mehr ereignet sich die Kirche, auch dort, wo sie bisher nicht war. Sie wächst, gedeiht und entfaltet sich in dem Maße, in dem die Einzelnen Getauften sie mittragen, mitgestalten und mitverantworten. Sollte also das uns geläufige kirchliche Leben irgendwann einmal, warum auch immer, zusammenbrechen, dann wir auf jeden Fall aus dem Glauben der Christinnen und Christen heraus, in dem Sinne, wie sie auf die "sechs Fragen" antworten, die Kirche erneut entstehen, wachsen und in bunter Vielfalt gedeihen.
Zwölf Thesen, warum die evangelische Fusionitis in die Irre führt.
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