Erstes Ritual: SCHWEIGEN

 

In den meisten christlichen Tradition spielt die Mystik eine mehr oder weniger wichtige Rolle. Für den flüchtigen Betrachter mag die Mystik etwas von Weltflucht an sich haben, aber das Gegenteil ist der Fall. Wir üben uns im Schweigen, im Stillwerden, im Loslassen, im Schauen, im Wahrnehmen, um die uns umgebende Wirklichkeit an uns heranzulassen, sie zuzulassen, sie anzuschauen, und das, ohne zu werten oder zu urteilen. Wir lassen die Dinge so, wie sie sind. Wir lassen auch uns selbst, wie wir sind. Darin nehmen wir die "Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnaden", den zentralen Gedanken der evangelischen Kirche, ernst und bekennen, dass Gott uns so, wie wir sind, und nicht anders, annimmt, was uns dazu anregt, selbst genauso mit uns umzugehen. Das ist eine Grundvoraussetzung für das Wachstum von Vertrauen, das nach einiger Übung sich in der Haltung von Gelassenheit auswirkt, die wiederum auf andere, ansteckend wirkend, ausstrahlen kann. Aber all das braucht Übung, Geduld, Zeit, Ausdauer. Unsere normalen Tagesabläufe geben nicht automatisch Gelegenheit dazu. Es bedarf dazu die Entschlossenheit, den festen Willen und die Stetigkeit: Von selbst geht das nicht. Solange uns das gelingt, wird das sowohl für uns selbst wie auch für unsere Umgebung und wie am Ende auch für die gesamte Gesellschaft nicht ohne Wirkung bleiben. 

 

EINÜBUNG INS SCHWEIGEN

 

Wir beginnen damit, indem wir uns bewusst machen: Mich gibt es. Ich lebe. Ich bin auf der Welt. Aber ich habe mich selbst nicht geschaffen und nicht ins Leben gerufen. Ich bin also gewollt. Wer hat mich gewollt? Wer ist es, der meinem Leben seinen Sinn gegeben hat und worin besteht er? Wofür bin ich da? 

Das ist das eine. Das andere: ich bin getauft. Gott hat mir sein Wort gegeben. Du bist meine Tochter/mein Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen. Auf dieses Wort, dass Gott mir gegeben hat, kann ich mich absolut verlassen, im Leben und im Sterben. 

 

Das ist die Voraussetzung, um sich im Loslassen zu üben. Wir sprechen übrigens dann vom „Schweigen“. Damit ist gemeint dass wir uns eine Zeit bzw einen Raum schaffen, indem wir mit niemandem sprechen (müssen) und niemand uns anspricht oder anruft. Das kann nur gelingen, wenn wir verlässlich ungestört bleiben. Wir lassen uns auch durch nichts ablenken, etwa durch herumliegende Alltagsmedien wie Smartphone oder Zeitschriften oder alles andere, was unsere Aufmerksamkeit zu beanspruchen versucht. Das Schweigen lässt sich nur in einem solchen geschützten Raum einüben. Das kann die eigene Wohnung oder eine offene Kirche oder ein Spaziergang sein. 

 

Wenn ich diesen Raum der Stille gefunden oder geschaffen habe, wende ich mich als nächstes meinem Körper zu. Er ist ein Spiegel meiner Seele, das heißt all dessen was in mir vorgeht. Stehe ich z.b unter Druck oder bin im Stress, dann ist auch mein Körper dementsprechend angespannt, verspannt oder sogar verkrampft. Fühle ich mich vergnügt, erlöst und befreit, spiegelt auch das mein Körper wieder. Alles, was in meiner Seele vorgeht, findet seinen Ausdruck in meinem Körper, der damit zu einem Zugang zu meiner Seele wird. 

Aber nicht nur, was in meinem Inneren unbewusst, halbbewusst oder bewusst vorgeht, wirkt auf meinen Körper ein. Vielmehr kann ich auch mit meinem Bewusstsein, also bewusst Einfluss auf ihn nehmen. Deswegen machen wir uns im Schweigen als erstes unseren Körper bewusst. Wir schauen, wo er müde ist verspannt, erschöpft, fahrig, unruhig, nervös. Alle Anspannungen, die uns bewusst werden, lassen wir bewusst los. Wir ent-spannen uns. Damit beseitigen wir nicht, was uns unter Druck setzt, aber wir machen es uns bewusst und setzen uns dem aus. Der Weg ins Schweigen ist also in der Regel kein einfacher Weg, weil wir uns all dem bewusst aussetzen, was uns das Leben buchstäblich „schwer“ macht, was auch der Grund dafür ist, dass wir Schweigen und Stille im Alltag gerne vermeiden. All das, was uns das Leben erschwert und wogegen wir uns mit der Anspannung unseres Körpers wehren, dringt jetzt gewissermaßen ungefiltert auf uns ein und zwingt uns geradezu, dass wir uns damit auseinandersetzen. Das Schweigen ist keine Oase, in die wir uns flüchten könnten, sondern konfrontiert uns erst recht mit unserer Wirklichkeit. Aber jetzt, wo wir durch nichts anderes gestört werden, haben wir die Zeit, damit umzugehen. Das genau ist es, was geschehen soll. Jetzt, wo uns nichts ablenkt und abhält, können wir den Zumutungen standhalten. 

 

Einfacher machen wir es uns, wenn wir auf unseren Atem achten. Wir lassen in fließen und schauen ihm dabei zu. Wenn wir ausgeatmet haben, holen wir nicht sofort wieder Luft, sondern warten einige Augenblicke, bis der Atem wieder von allein einsetzt. Das tun wir eine Weile lang und merken mit der Zeit, dass wir uns dabei automatisch entspannen und innerlich zur Ruhe kommen.  

Diese Übung ist sehr elementar und einfach und gehört zu unserem Menschsein dazu. Wir entziehen uns gewissermaßen der Ablenkung – durch Menschen, Medien, Notwendigkeiten etc. – und nehmen uns bewusst und entschlossen die Zeit dafür.  

 

Die Stille ist Voraussetzung oder Folge der Begegnung mit Gott. Ohne die ist sie nicht denkbar. Häufig macht dir Stille aber erst mal die Gottesferne, die Abwesenheit von Gott, die Angst, die Einsamkeit bewusst. Dazu muss man sich vor Augen halten, dass alles, was Gott tritt und schafft, darin besteht, dass er wachsen lässt. Auch er selbst muss in einen Menschen gewissermaßen als verletzliches Kind geboren werden und heranwachsen. Dazu braucht es die beständige Übung der Stille  

 

Auch in der Gemeinschaft kann und soll das Schweigen geübt werden. Dazu ist ein Raum erforderlich, in dem die Gruppe sich ungestört aufhalten kann. Es wird eine kleine optische Mitte geschaffen, z. B. eine Kerze, ein kleiner Altartische, eine aufgeschlagene Bibel, eine Pflanze, und um diese Mitte lassen sich die Teilnehmer der Gruppe nieder; sie sitzen auf einem Taizé-Bänkchen, auf dem Boden oder einen Stuhl, die Zeit der Stille und der Übung wird mit einer Klangschale eingeleitet und nach ca. 20 Minuten beendet. An diese Stille kann sich ein Austausch, eine Gebetszeit oder eine der hier vorgestellten Übungen anschließen. 

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