Die Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade durch den Glauben ist das Herzstück der evangelischen Kirche. Manchmal widerfährt sie einem Menschen unwillkürlich und überraschend, wie das bei Martin Luther der Fall war, womit damals die Geschichte der evangelischen Kirche begann. Denn sie ist nicht nur ein Lehrsatz, der zu glauben ist, sondern Erlebnis, Erfahrung, Wirklichkeit. Erst, wenn sie Gelöstheit, Tiefenentspannung und “In-sich-selbst-ruhen" auslöst, wenn von einem alles abfällt, was einen runterzieht und blockiert, wenn ein Mensch seine innere Befreiung ausstrahlt und andere damit ansteckt und eine Atmosphäre der Freiheit hervorruft, die sich unwillkürlich auf andere überträgt, erst dann reden wir von Rechtfertigung.
Manchmal, wie gesagt, widerfährt sie einem völlig unerwartet, aber in der Regel muss - und kann! - sie eingeübt und geübt werden. Damit beginnt Leben und Wachstum der Kirche auf ganz natürliche Weise, darum jedenfalls müssen wir uns dann nicht mehr kümmern. Es geschieht „automatisch“, wie es im Neuen Testament heißt (Mk 4,28).
Um die Rechtfertigung einzuüben und sich in ihr zu üben – das ist der erste Schritt –, machen wir uns klar, dass Gott sich mit uns versöhnt hat und mit uns für immer und endgültig Frieden geschlossen hat. Er bejaht uns uneingeschränkt und bedingungslos. Er schaut uns freundlich und liebevoll an, wie eine Mutter ihren Säugling. Das ist die Voraussetzung dafür, dass wir uns selbst so anschauen: freundlich, bejahend, liebevoll. Wir nehmen uns selbst und alles, was jetzt in uns und um und ist wahr, ohne uns zu verurteilen und ohne uns zu rechtfertigen, ohne Verdrängung und ohne Einbildung. Wir nehmen keine Wertungen vor. Nichts ist böse oder gut, alles ist so, wie es ist, und das ist in Ordnung. Es ist gut so. Ich nehme mich und alles, was in mir und um mich herum an, so wie es ist.
Ein gerechtfertigter Mensch kann sich verlassen – aber das setzt voraus, dass er weiß, worauf. Der Gerechtfertigte verlässt sich auf den, der ihn rechtfertigt. Vorbild ist für ihn ein Kleinkind, das sich – es kann gar nicht anders – absolut auf Mama und Papa verlässt. Kinder haben die Fähigkeit, zu vertrauen; das ist das sogenannte Urvertrauen, ein unbegrenztes Vertrauen, das dann im weiteren Verlauf des Lebens vielfach in Frage gestellt wird (Röm 8,15, Gal 4,6, Mt 8,3). Sie sind völlig entspannt. Die Fähigkeit, sich völlig loslassen, wird mit zunehmendem Alter durch Misstrauen und Angst bedroht. Sie versteht sich dann nicht mehr von selbst, sondern muss geübt und eingeübt werden, was oft als Spiritualität bezeichnet wird. Spiritualität ist die Einübung von Vertrauen. Vertrauen ist die Voraussetzung für gelingendes Menschsein. Vertrauen, Gelassenheit, Tiefenentspannung wirken sich auch auf den Körper aus, weil der Körper die Außenseite der Seele ist, so, wie die Seele die Innenseite des Körpers ist. Durch ihn strahlt jeder Mensch aus, was in ihm drinnen ist – sei es Druck, Stress, Verkrampfung, Angst und Überforderung, oder sei es Gelöstheit, Lebensfreude, Aufatmen, Leidenschaft und Entschlossenheit.
Unser Körper strahlt nicht nur aus und macht nicht nur sichtbar, was in uns vorgeht – er stellt auch einen Zugang zu unserem Inneren, unserer Seele dar. Wir können über ihn Einfluss darauf nehmen. Das erfordert allerdings Geduld, Ausdauer und Kontinuität. So schauen wir auf unseren Atem. Er ist die Mitte unseres Lebens, das mit dem ersten Atemzug beginnt und mit dem letzten Atemzug endet. Schon unser Atem spiegelt uns wider, wie es uns geht. Stehen wir unter Druck, sind wir kurzatmig oder atmen wir flach. Wir lassen den Atem bewusst ganz zu Ruhe kommen. Am Ende des Ausatmens halten wir einige Augenblicke inne, bis das Einatmen von selbst einsetzt. Schon nach einigen Atemzügen merken wir, dass wir nach und nach zu Ruhe kommen und uns entspannen. Manch einer wird merken, wie müde er ist, dann soll er dem Schlafbedürfnis ruhig nachgeben. Oder wir spüren, wie angespannt wir sind und an welchen Stellen unseres Körpers vor allem. Solche Anspannungen haben eine Funktion. Sie werden durch den Druck, dem wir ausgesetzt sind, ausgelöst und sollen ihn abwehren und uns davor schützen. Durch diese Anspannung strahlen wir die Hektik, Stress, Erschöpfung aus; sie sind Abwehrhaltungen gegen das, was für uns unangenehm ist und was uns – vermeintlich oder tatsächlich - bedroht. All diese Anspannungen lassen wir bewusst los und wir ent-spannen uns bewusst. Damit geben wir den Widerstand gegen das, was uns Angst macht und überfordert, auf. Wir lassen es zu und schauen es uns bewusst an und gehen damit um. Das muss nicht, kann aber eine Überforderung für uns sein. Dann sollten wir damit nicht allein bleiben und uns Menschen unseres Vertrauens anvertrauen.
So lernen wir nach und nach, in uns selbst zu ruhen und einen inneren Halt zu finden (was gerne mit dem Wort “Haltung” bezeichnet wird – Haltung ist also nicht das, was wir halten, sondern dass was uns hält, wovon wir uns halten lasse und was uns den festen Boden unter unseren Füßen gibt). Wir finden Antwort auf die Frage, was uns im Leben hält, so das wir uns nicht mehr selbst festhalten müssen, was die Ursache für viele Verspannungen und Verkrampfungen ist. Je mehr wir uns im Fließenlassen des Atems und in der bewussten Entspannung üben, umso mehr wird uns das auf Dauer gelingen, und umso mehr strahlen wir das aus und wirken entsprechend auf Menschen, denen wir begegnen. Und schließlich wirkt unsere Ausstrahlung auch auf die Atmosphäre ein, die zwischen Anwesenden herrscht – denn immer dann, wenn Menschen beieinander sind und sich begegnen herrscht eine bestimmte Atmosphäre; sie ist angespannt, konfliktgeladen, gelöst, heiter, begeisternd u. a. m. Die Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnaden durch Glauben bewirkt am Ende, dass zwischen Menschen – von selbst – eine Atmosphäre entsteht, die die Kirche gedeihen lässt.
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