Der christliche Gottesdienst dient der Vergegenwärtigung der biblischen Geschichte. Sie ereignet sich hier und jetzt, indem gewissermaßen eine Gleichzeitigkeit zwischen dem Jetzt der Gegenwart und dem Damals der biblischen Geschichte hergestellt wird. Es ist, als würden wir neben Abraham stehen, als er an dem Altar, den er Gott gebaut hat, seinen Namen anruft; als würden wir mit in der Synagoge sitzen, wenn Jesus predigt, als würden wir uns mit an den Tisch setzen, an dem Jesus und seine Jünger das letzte Pessach am Vorabend seines Todestages feiert, als seien wir zugegen, wenn er Menschen heilt, segnet und zurechtbringt. In diesem Sinne hat der christliche Gottesdienst vier Ursprünge:
1. Als Abraham zum ersten Mal das Land betritt, dass Gott ihm und seinen Nachkommen versprochen hat, “baute” er “dort dem Herrn einen Altar und rief den Namen des Herrn an” (1. Mose 12,8). Nach dem Traum von der Himmelsleiter wachte Jakob auf und wusste: “Der Herr ist an dieser Stätte und ich wusste es nicht... Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus.” (1. Mose 28,16f.) Auch Jakob baut – aus dem Stein, der ihm als Kopfkissen diente – einen Altar, um den Namen des Herrn anzurufen. Salomo baute den Tempel als Wohnort für den Namen Gottes. Im Neuen Testament tritt an die Stelle des festen Gebäudes die versammelte Gemeinde als Haus aus lebendigen Steinen, und für Jesus sind es schon zwei oder drei, die sich in seinem Namen versammeln, damit er mitten unter ihnen sein kann. Durch die Anrufung des Namens des Herrn, wird der Ort der Begegnung zwischen Gott und Mensch als geschaffen. Zunächst ist dafür der Ort das eigene Wohnzimmer, das zur Kirche der ersten Christen wird. Erst später wird der Gottesdienst zum öffentlichen Gottesdienst, zunächst in dafür umgewidmeten Wohnhäusern und Mehrzweck-Gebäuden, bevor dafür eigens Kirchen gebaut wurden. Von da an ist der Raum zwischen dem Altar, der Kanzel und dem Taufbecken für die Begegnung zwischen Gott und Mensch ausgesondert. Hier wird, im Namen Jesu, Gott angerufen. Hier wird das Wort Gottes ausgerichtet. Hier wird in Abendmahl und Taufe der (neue) Bund bekräftigt, den Gott mit den Menschen geschlossen hat. Hier werden Menschen, etwa anlässlich einer Taufe, einer Konfirmation, einer Trauung, einer Beauftragung, einer Ordination, gesegnet. Wir machen die Würde dieses Ortes durch unser Verhalten, durch Schweigen und Innehalten sichtbar. Dass evangelischen Kirchen außerhalb des Gottesdienstes oft nicht geöffnet sind, steht im Widerspruch zu ihrer Funktion, mitten im Leben der Menschen ein Ort für die Begegnung zwischen Gott und Mensch zu sein, auch dann, wenn nicht gerade Gottesdienst gefeiert werden. Jedoch gibt es inzwischen auch etliche evangelische Kirchen, die tagsüber geöffnet sind.
2. Der Synagogengottesdienst zur Zeit Jesu hat gewisse Ähnlichkeiten mit einem evangelischen Gottesdienst, vor allem durch die Lesungen, die Gebete (Psalmen) und wohl auch die Predigten und Auslegungen, die es dort gegeben hat. Auch Jesus hat diesen Gottesdienst in seiner Heimatstadt besucht. Und er hat dort gepredigt – und mit seiner Predigt die christliche Predigt begründet. Lukas berichtet von einer Predigt Jesu über Jesaja 61,1-2. Sie ist denkbar kurz und besteht nur aus einem einzigen Satz: “Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.” Das entscheidende Wort lautet - wie in der Weihnachtsgeschichte (2,11) und der Zachäus-Geschichte (19,9) - “heute”. Jesus spricht die in der Synagoge versammelte Gemeinde als die an, an die sich dieses Schriftwort richtet. Damit wird das schon damals einige Jahrhunderte alte Bibelwort zu einem Wort, das sich an die hier und jetzt versammelten Menschen richtet. Das ist der Sinn der Verkündigung, die Vergegenwärtigung des biblischen Wortes als an die Menschen in der Gegenwart gerichtetes Wort. Wir hören und lesen es als Menschen, für die dieses Wort bestimmt ist. Man muss sich klar machen, dass in der die Schrift auslegenden Predigt ein Wort an uns ergeht, dass wir uns selbst nicht sagen können. Wir würden niemals selbst auf die Idee kommen können, dass es das Wort vom Kreuz ist, das uns frei macht, wir ihm deswegen Glauben schenken, und dass dieses Wort ohne den Glauben stumm bleibt. Darauf macht auch Paulus aufmerksam, wenn er fragt: “Wie sollen sie aber den anrufen, an den sie nicht glauben? Wie sollen sie aber an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie aber hören ohne Prediger? Wie sollen sie aber predigen, wenn sie nicht gesandt werden? (…) So kommt der Glaube aus der Predigt, das Predigen aber durch das Wort Christi.” (Röm 10,14.15.17)
3. Am Vorabend seines Todes haben Jesus und seine Jünger den Seder-Abend gefeiert, mit dem Pessach eröffnet wird. (Das Johannesevangelium erzählt die Geschichte ein wenig anders, so dass bei ihm das letzte Mahl mit seinen Jüngern kein Seder-Abend gewesen sein konnte. Da die anderen Evangelisten, vor allem Lukas, großen Wert darauf legen, dass es einer war, gehe ich hier auch davon aus). Der Seder-Abend dient ebenso der Vergegenwärtigung des Aufbruchs aus Ägypten, der zum Bundesschluss am Sinai und in das von Gott versprochene Land führt. Die Teilnehmer an diesem Mal verhalten sich so, als fände dieser Aufbruch soeben statt und als wären sie selbst dabei. Dabei weicht Jesus am Ende von der genau festgelegten Liturgie ab, in dem er das Brot nimmt, bricht und teilt und dazu sagt: “Dies ist mein Leib” und daraufhin einen Kelch mit Wein herumreicht mit den Worten: “Dies ist der neue Bund in meinem Blut”. Dann gibt er ihnen den Auftrag: “Tut dies zu meinem Gedächtnis” (d. h. zu meiner Vergegenwärtigung). Wie im Pessach der Aufbruch aus Ägypten vergegenwärtigt wird, so vergegenwärtigen die Christen bei der Feier des Brotbrechens und des Abendmahls jenes letzte Mahl mit den Jüngern, indem er den “Neuen Bund” begründete, der durch seinen Tod und seine Auferstehung in Kraft trat.
Während sich in der katholischen Mess-Liturgie die Vergegenwärtigung auf die Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi bezieht, haben wir Evangelischen kein großes Interesse an Spekulationen darüber, was mit der Materie von Brot und Wein vor sich geht. Für uns bedeutet Vergegenwärtigung, dass in der Feier von Brotbrechen oder Abendmahl Jesus selbst gegenwärtig, mitten unter uns (Mt 18,20) ist. Wir nehmen an dem Tisch Platz, an dem die Jünger schon sitzen. Er selbst feiert das Mahl mit uns und begründet mit uns hier und heute den Neuen Bund.
4. Die Menschen, die Jesus damals begegneten, sind oft gesegnet, geheilt, zurecht gebracht oder – mit Gott und sich selber - versöhnt worden (“Dir sind deine Sünden vergeben”). Die Vergegenwärtigung des Segens jedoch findet in unseren Gottesdienst kaum noch statt. Über den Schluss-Segen im Gottesdienst (4. Mose 6,24-26, der sogenannte aaronitischen Segen) hinaus finden Segnungen hinaus nur aus gegebenem Anlass statt, bei Konfirmationen, Trauungen, Ordinationen, Amtseinführungen und Entpflichtungen statt, was in der Regel durch Handauflegung geschieht. In der fünften Regel geht es ausführlich um den Segen.
Die Geschichte des christlichen Gottesdienstes begann im Wohnzimmer und fand also zunächst gar nicht öffentlich statt, sondern in der Privatsphäre. Erst Jahrhunderte später wurde der Gottesdienst an öffentlichen Orten, etwa in umgewidmeten Wohnhäusern oder sogenannten Basiliken (Mehrzweck-Hallen für Märkte und öffentliche Veranstaltungen), bevor dann die ersten Kirchen errichtet wurden. Auch heute sind Hausgottesdienste sinnvoll. An ihm sind dann alle, die teilnehmen, beteiligt oder können sich einbringen. Er lässt sich mit einer normalen Mahlzeit verbinden, wie das auch in den Gemeinden des Neuen Testamentes der Fall war.
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