Vormundschaft, Religion, Verantwortung - Die Lage der Kirche im Lichte der sechsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung

Die sechste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung und die ersten Deutungen und Reaktionen darauf werfen ein bezeichnendes Licht auf die gegenwärtige Situation der evangelischen Kirche. Um das zu verdeutlichen, muss ich ein bisschen ausholen. 

 

Als die evangelische Kirche 1919 aus der - schon seit langem als unbefriedigend empfundenen - staatlichen Vormundschaft entlassen wurde, standen die kirchlichen und theologischen Verantwortlichen schlagartig vor neuen Herausforderungen, auf die sie unterschiedlich reagierten. Der Generalsuperintendent Otto Dibelius sah darin die große Chance, dass die Kirche nun betont selbstbewusst auftreten konnte: "Habemus ecclesiam! Wir haben eine Kirche!" Damit sich dieses neue kirchliche Selbstbewusstsein entfalten konnte, bedurfte es seiner Ansicht nach eines kirchlichen Führungsanspruchs und einer bischöflich verstandenen Autorität. Dahinter sollten sich die Evangelischen und die Gemeinden scharen.

 

Einen ganz anderen Autoritätsanspruch entwickelte sich, vor allem unter der Führung von Karl Barth, in der Theologie. Sie fand prominent etwa in der ersten These der Barmer Erklärung ihren Ausdruck: "Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen." 

 

Das richtete sich gegen die Irrlehren der Deutschen Christen und der Nationalsozialisten, die aber selbst nicht genannt werden. Vielmehr ist hier der Wahrheitsanspruch des Wortes Gottes allgemein exklusiv formuliert: Allem, was nicht der Autorität des Wortes Gottes, also der Autorität Jesus Christi als Quelle der der kirchlichen Verkündigung untersteht, wird die Anerkennung als Gottes Offenbarung verwehrt. Theologie wird im Zeichen des Wortes Gottes und seines exklusiven Wahrheitsanspruches betrieben.

 

Sowohl der kirchliche wie auch der theologische Führungsanspruch beherrschte in den Jahren vor 1933 die öffentliche Diskussion. In ihrem Schatten und wenig von der kirchlichen Öffentlichkeit bemerkt, entwickelt sich ein drittes und völlig neues Kirchenmodell, das nicht auf einer zentralen Autorität, sondern auf die Verantwortung des Einzelnen beruht. Die Berneuchener Bewegung orientierte sich an ihrem Leitsatz: "Wir können an der Kirche nur bauen, wenn wir selber Kirche sind." Kirche in diesem Sinne ist eine nicht-hierarchische Gemeinschaft vor Ort, in der jede Schwester und jeder Bruder gemäß seine Berufung, Fähigkeiten und Leidenschaften Verantwortung übernimmt. Luthers "Freiheit" - und Verantwortung - "eines Christenmenschen" wird hier beispielhaft sichtbar. 

 

Dietrich Bonhoeffer hielt die Berneuchener für "gefährliche Reaktionäre", aber seine Vorstellungen waren denen der Berneuchener durchaus vergleichbar. Auch ihm schwebte eine nach innen von einer verbindlichen und tiefen Spiritualität geprägten hierarchiefreien Gemeinschaft vor, die nach außen den Menschen auf Augenhöhe begegnete und dabei auf jegliche religiöse Bevormundung verzichtete. 

 

In den Gemeinden ist die Kirche in diesem Sinne gewiss immer wieder gelebt und gestaltet worden, z. B. im missionarischen Gemeindeaufbau. Aber im Blick auf die Gestaltwerdung der Kirche als ganzer sind weder die Berneuchener noch Bonhoeffer (auch wenn dessen Kernsätze oft zitiert werden) nachhaltig bestimmend geworden. Zunächst konnte man nach dem Krieg so etwas wie einen Wettbewerb zwischen der theologischen Autorität (in Barths und Niemöllers Sinn) und dem kirchlichen Führungsanspruch (im Sinne von Dibelius und Meiser) beobachten. Während aber, etwa ab den 1980ger-Jahren, der Stern Karl Barths zu verblassen schien (und mindestens in der praktischen Theologie der Stern Schleiermachers wieder stärker leuchtete), bauten die Kirchenleitungen ihre Führungsrolle immer weiter aus, jedoch nicht im Sinner religiöser Vormundschaft als vielmehr im Sinne einer kundenorientierten und betriebswirtschaftlich organisierten Dienstleistung. In den 1990ger Jahren dienten dazu Kommunikations- und Wirtschaftsberatungsfirmen als Vorbild und Berater, bis dann ab 2006 die "Kirche der Freiheit" und die ihr nachfolgenden Kirchenmodelle mit ihrem zentralistischen und von oben gesteuerten Kirchenleitungsstil die Herrschaft übernahmen, die bis heute das Kirchenleben bestimmen.

 

Aber diese Zeit scheint nun zu Ende zu gehen. Denn die seit den 1960ger-Jahren anhaltende Kirchenaustrittsbewegung ließ sich durch kein Reformvorhaben der letzten Jahrzehnte nachhaltig beeinflussen. Das war Anlass, um in Kirchenleitungen, auf Synoden und in der Pfarrerinnen- und Pfarrerschaft das Ende der Volkskirche zu diskutieren. Die 6. KMU scheint das zu bestätigen. Sie stellt fest, dass die Leute, vor allem im Osten, nicht nur nicht an kirchlichen, sondern auch an religiösen Dingen immer weniger Interesse haben. Christoph Markschies empfiehlt im "Zeitzeichen", "den Atheismus ernst zu nehmen und nicht als Religiosität zu verklären, die noch nicht begriffen hat, dass sie religiös ist." Das würde "diese Menschen nicht ernst nehmen, wenn ich sie für irgendwie religiös erklären würde, 'offen für die Transzendenz' oder 'auf Sinn hin orientiert' und was für Formeln man dann gern verwendet". 

 

Im ersten Begleitband zur 6. KMU wird die Frage aufgeworfen, ob Religion lediglich ein (unter Umständen verzichtbares) Kulturphänomen ist, oder ein anthropologisches Phänomen, also etwas, was zum Mensch-Sein wesentlich dazu gehört. Für mich ist dies, mit Verlaub, nicht einmal eine Frage (lediglich, ob er der Begriff "Religion" dafür der richtige ist, ließe sich diskutieren). Der Sache nach aber wissen wir Menschen nicht, woher wir kommen, warum es uns gibt, warum es alles gibt, worin der Sinn liegt, wofür wir Verantwortung haben, ob und wofür wir Rechenschaft geben müssen, ob und was nach dem Tod, nach dem Ende der Welt kommt, was außerhalb der für uns begreifbaren Welt mit ihren Widersprüchen an den Grenzen ihrer Wahrnehmung ist, ob und worauf wir vertrauen und uns verlassen können oder ob sich stattdessen Misstrauen, Angst und Panik durchsetzen. Dies nicht zu bestreiten, heißt zwar in der Tat, den Atheismus nicht ernst zu nehmen (und das tue ich wahrlich nicht!), heißt aber nicht, die Menschen nicht ernst zu nehmen, die sich für Atheisten und Religionslose halten. Wir nehmen sie ernst, und zwar alle - auch da, wo sie selbst sich nicht ernst nehmen. "Ihren Atheismus ernstnehmen" hieße, sie ihrem Atheismus als einem endgültigem und irreversiblem Phänomen auszuliefern. Kann es nicht sein, dass wir es mit Menschen zu tun haben, die keineswegs in sich und in ihrer aufgeklärten und durch und durch vernünftigen Welt ruhen - sondern mit Menschen, die heimatlos und entwurzelt umherirren, dies aber niemals, und vor allem vor Kirchenleuten nicht, zugeben würden? Und die bei nächster sich bietender Gelegenheit wehrlos geschlossenen ideologischen Weltbildern ausgeliefert sind, wie wir es doch im letzten Jahrhundert erlebt haben, und wie wir es gerade jetzt erleben, und zwar besonders dort, wo die sich für Atheisten haltenden Menschen häufig anzutreffen sind? Zum mindesten müssen wir mit dieser Möglichkeit rechnen. Damit ist ja nicht nicht gemeint, dass wir an irgendwelche religiösen Bedürfnisse "anknüpfen", was uns ja strikt und mit guten Gründen verboten ist (wobei neuerdings wieder etwa in Gestalt von "Kasualagenturen" und "Segnungsbüros", die gerade überall aus dem Boden sprießen, fröhlich "angeknüpft" wird und die natürliche Theologie fröhliche Urständ' feiert). 

 

Deswegen stellt sich in erster Linie nicht die Frage, was wir als Kirche brauchen, sondern zuallererst die Frage: Was braucht die Gesellschaft von uns - auch dann, wenn die Mehrheiten sagen, dass sie uns nicht brauchen? Was würde ihr fehlen, wenn es die Kirche nicht gäbe? Und es gibt allen Grund, sehr selbst- und verantwortungsbewusst festzuhalten: Selbstverständlich ist unsere Gesellschaft darauf angewiesen, dass es in ihr Kirchen gibt. Nicht jeder braucht sie, aber auch nicht jeder kann sie entbehren. Wenn es sie nicht gäbe, würde schnell der von den Kirchen, vom Christentum verlassene Raum besetzt werden von allen möglichen Geistern und Mächten, von denen wir möglicherweise nicht mehr wissen, wie wir sie loswerden, und so was deutet sich ja schon hier und dort an. Wir sind als Kirche unentbehrlich - das festzustellen ist kein Klerikalismus, sondern bitter notwendig und alles andere wäre unverantwortlich.

 

Unsere Gesellschaft braucht Orte, an denen das Evangelium und die biblische Geschichte präsent gehalten wird, an denen der Name Gottes angerufen wird und Gott Menschen beim Namen anruft. Sie braucht Orte, die dazu bestimmt sind, dass Gott und Mensch sich begegnen und die offen für alle sind, die sie betreten möchten. Sie braucht Menschen, die im Christentum geübt sind und die es auf diese Weise in sie hinein ausstrahlen. Sie braucht Menschen, die in der Achtsamkeit geübt sind und Menschen die Erfahrung geben, geachtet, beachtet, ernstgenommen und wertgeschätzt zu werden. Sie braucht Rituale, in den die Menschen, wenn sie es denn möchten, geborgen und beheimatet sind. Sie braucht die Erzählung der biblischen und der Glaubens-Geschichten, in denen sich Menschen wiederfinden. Sie braucht die prophetische Ansage, die beim Namen nennt, was nicht zu verschweigen ist und doch verschwiegen zu werden droht.

 

Eine Gesellschaft ohne dies alles wird auf Dauer nicht lebensfähig sein. Wir haben eine große Verantwortung und wir nehmen sie wahr. 

 

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