Die Kirche hat keine Zukunft. Aber welche? (2/3)

2023 erschien von Heinzpeter Hempelmann, Die Kirche ist tot, es lebe die Kirche! Denkanstöße, wie die Kirche neue Zukunft gewinnen kann (Brunnen-Verlag, 128 Seiten).

 

"Man versucht die noch bezahlbaren Immobilien gerecht auf die Gemeinden zu verteilen und entsprechend umzurechnen, und bemerkt nicht, was die Schließung von Kirchen für die Gesellschaft 'bedeutet'; man versucht, die noch besetzbaren und bezahlbaren Pfarrstellen auf die immer kleiner werdende Zahl von Kirchenmitgliedern umzurechnen und in immer kürzeren Abständen das parochiale Netz neu zu stricken, und bemerkt nicht, dass es an vielen Stellen schon gerissen ist oder zu zerreißen droht.". (12)

 

So beschreibt Hempelmann die Ausgangssitiuation, den gegenwärtigen Ist-Zustand der Kirche, die seine Überlegungen veranlassen und ihn zunächst dazu führen, in zwölf Thesen zu begründen, warum die Kirche keine Zukunft hat. Er nennt unter anderem den Verlust der kommunikativen Anschlussfähigkeit und die Milieugefangenschaft der Kirche. Sie ist, weil sie ein geschlossenes System ist, nicht veränderungsfähig, was sich auch darin ausdrückt das die Zahl der geschaffenen Verwaltungsstellen in etwa der Zahl der gestrichenen Pfarrstellen entspricht. Sie ist nicht mehr notwendig, denn "Spiritualität - gibt es woanders lebendiger und interessanter. Ewiges Heil - gibt es überall (…). Diakonische und soziale Hilfe - liefern viele. (…) Geselligkeit im Verein - finde ich auch woanders. Politisches Engagement - bringen doch schon die Parteien." (28) Sie ist nicht mehr unverwechselbar, sie hat ihren "Unique Selling Point" verloren, ihr Markenkern ist nicht mehr erkennbar. (29) Hinzu kommt, dass sie die falschen Leute bzw. ihre Leute falsch ausbildet, "Exegese biblische Texte geschieht unter Ausschluss des Gottesgedankens… Theorie des Christentums, nicht aber Glaubenskommunikation ist der Fokus." (32) Sie will es allen recht machen und verliert darüber beides, Identität und Relevanz. (333) "Debattiert wird… bereits Jahrzehnte über die Zukunft der Kirche", doch "genau diese Debatten um die Zukunftsfähigkeit der Kirche nehmen ihr aber die Energien, die sie braucht, um Zukunft zu gewinnen." Hier zeigt sich der "milieuspezifische Stil protestantischer Eliten" und damit verbunden eine "Milieuverengung des Leitungspersonals". "Gabenvielfalt wäre nötig, Liberal-Intellektuelle sollen analysieren, Sozial-Ökologische müssen kritisieren, Traditionsorientierte sollen beten, aber es braucht auch die Performer, die in Bewegung bringen, 'machen' und dafür sorgen, dass die Expeditiven ihre Kreativität und ihre Initiative einbringen können. Gabenvielfalt unter Milieuperspektive". Damit ist der Ton angeschlagen, den Hempelmann im weiteren Verlauf aufnehmen wird, indem er sich auf die Milieuforschung des SINUS-Instituts beruft und bezieht.

 

Zunächst aber fragt er im zweiten Kapitel, "wie eine schwache Kirche wieder Zukunft gewinnen kann". (ab 38). Dazu muss sie "auf Beschönigung verzichten… die eigene Erschöpfung einsehen… die eigenen Leerstellen und Leer-Räume Gott zur Verfügung stellen", den er ist schon "in ihr drin", weshalb "wir die Kirche nicht kaputt kriegen" (41); "unsere letzte Loyalität" jedoch gilt "der von Jesus Christus herausgerufenen ekklesia, nicht einer bestimmten bestimmten, geschichtlich gewordenen und immer überholbaren Gestalt von Kirche." Dabei dürfen wir auf die Fixierung auf eine kleinbürgerliche Lebenswelt, auf eine anerkannte Partnerschaft mit dem Staat, auf scheinbar starke dogmatische Positionen, ethische Proklamationen und Bekenntniszuspitzungen, auf Immobilienbestände bzw. finanzielle und personelle Ressourcen verzichten und entdecken, "wie gut es sich mit leichtem Gepäck lebt." Stattdessen wollen wir erkennen, wie wir Kraft gewinnen "durch die Anerkennung der Leistung von Menschen", durch das "Staunen über das, was beispielhaft gelingt", durch "Träumen von Gottes Zukunft", durch die Suche "nach denen, die Verbündete sein können", durch "Fehlerfreundlichkeit". (44f.). Die Bereitschaft, zur Minderheitenkirche mit freiwilligkeitskirchlichen Merkmalen zu werden und das faktische Ende der Volkskirche anzunehmen, sich auf das Proprium und den "Unique Selling Point" zu besinnen, an die Stelle der Konvention die Überzeugung zu setzen (47f.) und aus der "Logik der Versorgung" in eine "Logik der Mündigkeit und Selbständigkeit " zu wechseln und auf Privilegien wie "Religion als ordentliches Lehrfach" zu verzichten und nach profilierteren Möglichkeiten der Glaubenskommunikation zu suchen" und "nicht wie eine Behörde Steuern zu erheben, sondern auf die freiwillige und reflektierte Unterstützung ihrer Glieder zu setzen." (62).

 

Im dritten Kapitel wird Hempelmann konkret und benennt, was für ihn der Schlüssel zum Aufbruch der Kirche ist: Milieusensibilität. (ab 64) In lebensweltlicher Hinsicht ist unsere Gesellschaft in unterschiedliche Milieus fragmentiert, "In ihr stehen prämoderne, moderne und postmoderne Mindsets, d. h. Grundorientierungen oder Basismentalitäten nebeneinander und konkurrieren miteinander". Sie gewinnen ihre Identität, indem sie sich gegenseitig voneinander  durch Distinktionsgrenzen, sogenannte "Ekelschranken" abgrenzen. "Die empirisch vorfindliche Gestalt einer Kirchengemeinde ist immer durch eine bestimmte Mentalität und ein bestimmtes Milieu dominiert." Was wir sind, ist normal und normativ, "das gilt gleichermaßen für konservatives Christentum, eine traditionelle Volksfrömmigkeit, einen postmateriellen (Links-)Protestantismus, einen bürgerlich geprägten Neupietismus wie für charismatisch geprägte, pragmatische Gemeindebewegungen." (71) Es sind also lediglich drei, höchstens vier der insgesamt zehn Sinus-Milieus, die in den Kirchen anzutreffen sind, alle anderen sind unter- oder nicht repräsentiert.

 

Eine milieusensible Kirche "ist eine schwache, ihre eigene Schwäche einsehende Kirche", die wahrnimmt, "wie wenig sie die Menschen in und außerhalb der Kirche erreicht." (71). Demütig lernt sie von der Sozialwissenschaft und vollzieht "eine kopernikanische Wende "von der Komm-Erwartung zur Geh-Bereitschaft" (73), wobei Hempelmann nicht benennt, was genau sich hinter diesen beiden Formulierungen genau verbirgt. Sie baut Gemeinden und "Kirchen am anderen Ort, auf der Messe oder an der Autobahn, in der Krankenhaus-Kapelle, im Cafe oder an der Schule...(etc.)" Sie freut sich über über das, "was neu, innovativ, kreativ neben ihr wächst" und "unterstützt es, ohne zu erwarten, dass sie daraus einen direkten Benefit daraus zieht". (76) Sie verzichtet auf die hergebrachte kirchliche Leitkultur und vermeidet die Dominanz eines Milieus. Sie "sucht die Einheit der Kirche nicht in einer dominanten, aber immmer nur partikularen, nur wenige repräsentierenden Monokultur." (78) Ihre Gemeinden "verzichten auf den eigenen Gottesdienst, um mit anderen Christen... gemeinsam Gottesdienst zu feiern." (82) Sie "verlässt ihre heimeligen, aber geschlossenen mentalen Räume" und gibt "ihre Identität" auf.

 

Ich gestehe, dass mich diese Überlegungen ein wenig ratlos zurücklassen. Fast hat man den Eindruck, man könne aus seiner Haut raus und die Milieus wechseln wie die Hemden, so, als sei die Frage des eigenen Milieus die Frage der eigenen Entscheidung und bewusst vollzogenen Wahl. Doch Bourdieus feine Unterschiede stellen sich spontan und unwillkürlich, unbewusst und unbemerkt ein. Das ist auch Hempelmann selbst klar: "Distinktionsschranken… können auch wir nicht einfach überspringen, auch nicht durch das postmaterielle Allheilmittel der Reflexion." (87) Hempelmann sagt es nicht ausdrücklich, aber lässt es doch zwischen den Zeilen deutlich werden, das schon der Versuch, Milieugrenzen zu überschreiten, außerordentlich aufwendige Maßnahmen erforderlich macht: "Da die Adressierung unterschiedlicher Lebenswelten eine einzelne Gemeinde überfordert, verabreden die Kirchen und Christen einer Region eine gabenorientierte Delegation von Aufgaben an die einzelnen Gemeinden und Gruppen… eine "wechselseitiger Traffic" ein "gemeinsamer Auftritt in der Öffentlichkeit", eine "gemeinsame Homepage oder Veranstaltungsseite", eine "gemeinsame Gottesdienst- und Veranstaltungslandschaft" u. a. m. nur durch massive zentrale Steuerung und Regionalisierung geleistet werden, die die einzelnen Gemeinden und Gemeinschaften wieder einmal entmündigt und zu Rädchen in einem größeren Getriebe degradiert - was Hempelmann natürlich nicht ausdrücklich sagt, was aber doch offensichtlich ist und auf der Hand liegt. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass das System der Milieus ja nicht starr und unbeweglich ist, sondern sich einer stetigen, nicht berechenbaren Eigendynamik weiterentwickelt - es müsste ständig neu untersucht werden, mit welchen Milieus wir es gerade zu tun haben.

 

Aber selbst dann, wenn man den Versuch gleichwohl unternimmt - er ist zum Scheitern verurteilt. Den Hedonisten ein Hedonist, den Liberal-Intellektuellen ein Liberal-Intellektueller, oder den Prekären ein Prekärer zu werden dürfte sofort als Anbiederung durchschaut und als unangenehm empfunden werden, so, wie Konfirmanden es als Anbiederung erleben, wenn ihr Pfarrer sich "auf jugendlich" und kumpelhaft gibt in der Hoffnung, auf diese Weise ihre Sympathie zu gewinnen. Paulus ist den Juden wie ein Jude geworden und denen unter dem Gesetz wie einer unter dem Gesetz (1. Kor 9,20ff.), aber er hat nie verschleiert, dass er Jude ist (Röm 11,1). Er ist "allen alles geworden" (1.Kor 9,22), aber doch nicht, indem er seine Identität verleugnet. Er wusste in welchem Milieu er mit seiner missionarischen Arbeit ansetzen musste, nämlich im Umfeld der Synagogen. Ihm war auch klar, dass es zu Konflikten kommen musste, wenn, wie in Korinth, die unterschiedlichen Milieus in den Gemeinde aufeinanderstoßen. Der einzige Versuch, sich an ein eher kirchenfernes Milieu anzupassen, nämlich an das akademisch-intellektuelle Milieu in Athen - davon berichtet Apg 17 - war eher von mäßigem Erfolg gekrönt ("Wir wollen darüber ein andermal weiterhören"). "Allen alles zu werden", kann nur gelingen, wenn man sich seines eigenen Milieus nicht schämt und gerade nicht verleugnet, woher man kommt. Dann wird man entdecken, dass das Evangelium selbst Milieugrenzen überschreitende Kraft hat. Der Epheserbrief ist vom Staunen geprägt, wie unter der Wirkung des Evangeliums die Welt der Heiden und die Welt der Juden sich begegnet sind und dort gerade ein ganz neues Milieu entstanden ist. (Eph 2,11-22).

 

Ich vermute, dass die Milieuforschung aus dem Bereich der Wirtschaftswissenschaften stammt. Dort geht es um das punktuelle Kauf- und Wahlverhalten der Menschen, dass sich gut beobachten und wissenschaftlich auswerten lässt. Aber worum geht es in der kirchlichen Milieuforschung? Hempelmann spricht zunächst von der Notwendigkeit, "das faktische Ende der Volkskirche" anzunehmen. "Sie versucht nicht, mehr zu sein und alle zu umschließen. Sie realisiert, dass sie es an vielen Orten schon lange nicht mehr ist." Man könnte auch sagen: Die Kirche zieht sich aus der Fläche zurück und konzentriert sich auf verlässliche Orte. Im Blick auf die angestrebte Überschreitung der Milieugrenzen hat man jedoch den Eindruck, es geht in die Fläche. Sollen alle Milieus angesprochen werden? Oder nur bestimmte? Und was ist damit gemeint ist, Menschen zu "erreichen"? Was geschieht, wenn sie "erreicht" werden? Wie schlägt sich das nieder, wie wirkt sich aus, wie lässt sich das beobachten? Geschieht da nur etwas im Innern eines Menschen, von außen nicht beobachtbar, oder verändert sich wahrnehmbar sein Verhalten, schließt er sich einer Gemeinschaft oder was auch immer an? Eine seriöse kirchliche Milieuforschung müsse ja auch Instrumente an die Hand geben, mit deren Hilfe sich die Anwendung ihrer Erkenntnisse auswerten lässt. Auch Tillman Haberer räumt in seinem gleich noch zu besprechenden Buch ein, dass auch bei den Initiativen eines Christentums von morgen eine gewisse Milieuverengung nicht vermeiden lässt und stellt fest, dass bei entstehenden Kontakten "authentisches Leben die allerbeste Einladung ist" (dort 92 und 95f.).

 

Wie sehr auch Hempelmann seinem Milieu verbunden ist, merkt man der Sprache seines Buches an. Er spricht von denen, die ihrem "Herrn verbunden" sind, die ihrem "Herrn folgen" oder "loyal ihrem Herrn" gegenüber sind. Diese Sprache wird außerhalb seines Milieus kaum verstanden.  Das gleiche gilt, wenn er am Ende meint, dass un im Christuslied „keine abgehobene Dogmatik", begegnet, sondern dass Paulus hier eine Geschichte erzähle (92). Die Sprache, in der er diese Geschichte nachvollzieht, ist dann aber sehr dogmatisch und richtet sich an Menschen, die  In dieser Sprache zu Hause sind. 

 

Tilmann Haberer, Kirche am Ende

Kommentar schreiben

Kommentare: 0