Ebenfalls 2023 erschien das Buch von Tilmann Haberer, Kirche am Ende. 16 Anfänge für das Christentum von morgen (Gütersloher Verlagshaus, 288 Seiten). Im Gegensatz zu den besprochenen Büchern von Beile und Hempelmann steht die Kirche hier nicht mehr vor Entscheidungen, die noch zu treffen wären. Das hat sich erledigt und der weitere Weg der Kirche ist längst entschieden. Es ist das Verdienst von Haberers Buch, eindrucksvoll und plausibel nachvollziehbar zu erzählen, was auf uns zukommt. In 16 "Anfängen" - auf alle will ich hier nicht einzeln eingehen - beschreibt er, dass das Christentum von morgen keine Steuern einzieht, kein verbeamtetes Personal hat, nicht mehr Volkskirche, sondern das Familientreffen Gottes ist, nicht auf Versorgung, sondern auf Beteiligung setzt, in der bunten Vielfalt der Formen lebt, die sich auf wieder ändern können, keine Immobilien besitzt, kennt Verbindlichkeit nur auf Zeit kennt, theologisch klar, offen und weit ist, mit den Armen ihrer Gesellschaft lebt, nicht zwischen heilig und profan unterscheidet, m/w/d, schwarz, weiß und bunt ist, Buße tut, keine missionarische Agende hat, aber einen glaubwürdigen Lebensstil lebt, sich in der Arkandisziplin übt und sich nicht um Konfessionsgrenzen schert.
Hinter diesen 16 Anfängen werden drei grundlegende Entwicklungen erkennbar. Die erste, die sich abzeichnet: Die Kirche von oben hat keine Chance mehr auf weiter Entfaltung und wird nach und nach der Kirche von unten weichen. Obwohl sich die evangelische Kirche als von unten aufgebaut versteht, war sie faktisch von Anfang an Kirche von oben, weil sie sich sonst nicht hätte verwirklichen lassen können. Ihre Verwaltung und ihr Meldewesen ist behördenanalog, sie lässt Steuern einziehen, weist die Mittel gieskannenartig und nach Pro-Kopf-Zahl den Gemeinden zu, seien diese tot oder vor Leben sprudelnd, die Pfarrerinnen und Pfarrer und weitere sind "beamtenähnlich". Seit dem Impulspapier "Kirche der Freiheit" haben sich Zentralismus und Top-down-Strukturen noch einmal deutlich verschärft. Die Kirche versucht sich zukunftstauglich zu machen, indem sie innovative "Projekte" initiiert, die neuerdings vielfach aus dem Boden sprießen, aber das Problem dabei ist, dass sie nur funktionieren, "wenn die Hauptamtlichen sich dafür einsetzen" (19). Projektstellen werden dafür geschaffen. Wird aber die Projektförderung in die Regelförderung überführt und im Stellenplan dauerhaft abgesichert, stellen sie ein Konkurrenz zu den bestehenden Strukturen da, "namentlich zu den Kirchengemeinden" (20). Mit "FreshX," MUT (Bayern), oder den Erprobungsräumen in der mitteldeutschen und der rheinischen Kirche soll einer sich von unten bildenden Kirche von unten ausdrucklich Mut gemacht werden, aber durch ihre Befristigung hat sie nicht wirklich eine Chance, sich finanziell dauerhauft zu tragen. Eine "mixed economy aus herkömmlichen Gemeinden und neuen, ergänzenden Formen" wird so nicht funktionieren können (45). Es gibt (oder gab) ja schon einzelne Ansätze einer Kirche von unten, wie "De Nieuwe Poort" in Amsterdam (65), Freiraum Prenzlauer Berg in Berlin (66), Polylux in Neubrandenburg (67), die "beymeister" in Köln-Mülheim und andere mehr, "aber sie verändern die Kirche nicht, denn in der Struktur ist kein Raum. All die hoffnungsvollen Initiativen finden keine Herberge" (so Miriam Hoffman von den "beymeistern") (46). Auch wenn das Parochialprinzip zunehmend fragwürdig wird, es lässt sich nicht abschütteln, bleibt übermächtig und sorgt dafür, dass alle diese zukunftsweisenden Initiaven, die auf Beteiligung statt Versorgung setzen, finanzierungs- und personenabhängig sind und weithin kaum eine Chance haben, eine sich selbst tragende Eigendynamik zu entfalten.
Das Dilemma ist, dass das Parochialprinzip alternativlos das kirchliche Leben bestimmt, aber keine Zukunft hat. Die Reformen der Landeskirchen bestehen nahezu ausschließlich in Anpassungen an die jeweils aktuellen Zahlen, durch Fusionierung, Regionalisierung, Streichung, Schließung und dergleichen. Aber am System lässt sich nicht rütteln - nicht, weil es nicht gewollt wäre, sondern weil es schlicht nicht geht. Das über die Jahrhunderte gewachsene landeskirchliche System würde schlicht zusammenbrechen. Es ist unreformierbar. Das hat zur Folge, dass eine Kirche von unten sich nicht innerhalb, sondern nur neben und außerhalb kirchliche Strukturen entfalten kann. Es ist zu vermuten, dass dies auch irgendwann so sein wird. Es kann nur eine Frage der Zeit sein, dass wir in der Landeskirche uns eingestehen müssen, dass unser Lebensgefühl dem auf der Titanic gerade nicht unähnlich ist. Das dies keinesweg in Panik münden muss, sondern völlig neue Perspektiven eröffnen kann, darauf will ich später noch zu sprechen kommen.
Die zweite Entwicklung, die durch die Anfänge in Haberers Buch durchscheint: Es wird fraglos auch in Zukunft Kirche geben, aber sie wird nicht evangelisch sein. Die Geschichte des Protestantismus, die einst mit Luthers reformatorischer Entdeckung und dem Thesenanschlag begonnen hat, geht seinem unwiderruflichen Ende entgegen. Alle die Neuansätze kirchlichen Lebens, von denen Haberer berichtet, lassen kein evangelisches Profil mehr erkennen - abgesehen davon, dass inhaltliche Profilierung ohnehin kaum noch eine Rolle spielt: "Vielleicht wird Thomas, der zwei Jahre bei uns im Bibelkreis war, in ein paar Jahren ein glücklicher Buddhist, während Steffi für ein paar Jahre bei de ICF andockt, anschließend fünfzehn Jahre ganz agnostsch lebt und schließlich im Kabbala-Studium eine spirituelle Heimat findet. Und darf so sein, denn Gott ist die Liebe." (95) In einer Welt, in der "alles im Fluss" ist (102) und in der es "statt klarer Wahrheiten... nur noch kontexabhängige Meinungen, Sichtweisen und Haltungen" gibt, geht es zunächst nicht um Inhaltliches, sondern um eine "Willkommenskultur", eine herzliche Begrüßung und die Einladung, "noch auf eine Tasse Kaffee zu bleiben" (103). Es geht um ein "echtes Interesse an der Person", um Emotionen, um Atmosphäre, um ein Heimatgefühl, um das Prinzip "belonging before believing". Wahrheit ist etwas, über das keine Gruppe verfügt und der man sich nur probehalber, allmählich und prozessartig annähern kann. Haberer wirft den charismatischen Gemeinden vor, das Kreuz nicht wirklich ernst zu nehmen und hält es zugleich für nötig, überkommene Glaubensinhalte zu "dekonstruieren": "Dekonstruiert wird vor allem das Bild vom zornigen Gott, der die Sünder strafen 'muss', dazu die Sünden- und Versöhnungslehre sowie weite Teile der geforderten Moral" (109) und die "mittelalterliche Lehre vom stellvertretenden Sühnetod des einen Gerechten für alle Sünder" (110), weil die Menschen, auch dann, wenn sie aus eine kirchlichen Hintergrund stammen, "in der überwiegenden Mehrheit an einen liebenden Gott, der die Menschen gelten lässt und niemanden verloren gibt", glauben. (111). Mit solchen Sätzen werden - ohne dass es ausgesprochen wird - jegliche Gestalten einer Kreuzestheologie abgewiesen, weil sie "gedankliche Enge, Biblizismus und moralischen Rigorismus" begünstigen und "selbstverständliche Offenheit und spirituelle Frische" verhindern. Mit Klaus-Peter Jörns werden "notwendige Abschiede" genommen, um "ohne den Gedanken des Sühnopfers" auskommen zu können.
Evangelisch ist so etwas natürlich nicht mehr, denn das Kreuz Christi gehört schlicht ins Zentrum evangelischen Glaubens und es stellt sich die Frage, was anderes als ein Opfer das Sterben Jesu am Kreuz war. In den Grundtexten der evangelischen Kirche lesen wir, dass "er... mit seinem teuren Blut für alle meine Sünden vollkommen bezahlt und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöst" hat (Heidelberger Katechismus, Frage 1) und "mich verlornen und verdammten Menschen erlöst hat, erworben, gewonnen von allen Sünden, vom Tode und der Gewalt des Teufels, nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem heiligen, teuren Blut und mit seinem unschuldigen Leiden und Sterben" (Kleiner Katechismus). Das Wort vom Kreuz (1. Kor 1,18) wird langsam zur Torheit und zum Ärgernis, und in dem Maße, in dem das geschieht, hört die Kirche auf, evangelisch zu sein. Die Philosophie des 19. Jahrhunderts hat das ja vorausgehen, als sie süffisant zuschaute, wie wir unseren "menschenfreundlichen Gott" (von dem Haberer selbst auch gerne spricht) an den Himmel projizieren und dieses Bild mit dem wirklichen Gott verwechseln, obwohl wir doch wissen müssten, dass Gott tot ist und dass wir ihn getötet haben - wir könnten den "menschenfreundlichen Gott" auch weglassen und uns mit der Menschenfreundlichkeit begnügen, für die Gott gar nicht gebraucht wird und die auch ohne ihn funktioniert. Diese Frage, ob wir gottlos, Gott los sind, die die Reformatoren und die Theologen des 20. Jahrhunderts umgetrieben hat, stößt immer mehr auf Desinteresse. Die Frage nach dem abwesenden Gott und nach dem Menschen, der gerade mit Hilfe der Religion Gott versucht, im Griff und sich vom Leibe zu halten, beschäftigt nur noch Theologie-Historiker und scheint sonst niemanden mehr umzutreiben.
Möglicherweise oder wahrscheinlich wird auch das ein Kennzeichen des "Christentums von morgen sein", dass es nicht mehr evangelisch ist. Das führt uns zu einer dritten und vielleicht zu der entscheidenden Entwicklung, auf die Haberer bei dem 14. Anfang zu sprechen kommt und die Bonhoeffer schon vorausgesehen hat: Die Kirche wird sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen und sich im Verborgenen um das Gebet und das Tun des Gerechten sammeln. Nicht mehr der öffentliche Gottesdienst ist die Mitte der Kirche und sie wird auch nicht mehr durch die täglichen Posts etwa ihrer Bischöfe oder Präsides präsent sein. Im Schutz der (von Bonhoeffer in die Erinnerung gerufenen) Arkandisziplin konzentriert sie sich auf das Wort Gottes, sie teilt Brot und Wein, sie ruft ihn im Namen Jesu an, sie segnet die Menschen, die ihnen begegnen. Was mit dem "Tun des Gerechten" gemeint ist, hat Jesus deutlich gemacht - nicht die Lösung aller Probleme dieser Welt, sondern die Beachtung und Achtung des "Nächsten", des Einzelnen, des Menschen, der gerade hier und heute und jetzt ins Blickfeld gerät. Diese Kirche wird von außen kaum noch wahrgenommen werden, aber unter der Oberfläche wird sie um so wirksamer sein - Salz der Erde, so, wie es auch in neutestamentlicher Zeit war.
In einer geplanten Neuauflage dieses Berichts werden zwei weitere Bücher zum Thema vorgestellt und ein Fazit gezogen.
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