Die Bruderschaftsregel im Alltag

Weil die Kirche ihrem Wesen nach Bruderschaft ist, muss es in ihr Bruderschaften geben. So lautet der Leitsatz von Wilhelm Stählins kleinen Büchlein "Bruderschaft" von 1940, nur wenige Jahre nach Gründung der Michaelsbruderschaft. Die evangelische Kirche hat von Anfang an, und schon von Martin Luther bedauert, das Problem, dass sie als Landeskirche mit einer staatsanalogen Ordnung, als öffentliche Kirche gestaltet wurde und gestaltet werden musste (weil sonst die Reformation nicht durchführbar gewesen wäre), in der Entstehung, Bildung und Wachstum von Gemeinschaft und Gemeinde es immer schon schwer hatten und haben. Das war zu neutestamentlichen Zeiten ganz anders. Wenn sich unter diesen Voraussetzungen - ich bleibe bei der nicht gendergemäßen traditionellen Ausdrucksweise, obwohl stets und grundsätzlich von Gemeinschaften aus Frauen und Männern gemeint sind - Bruderschaften bilden, treten diese nicht an die Stelle der Gemeinden (die sich noch fast immer trotz gewisser Ausnahmen als Ortsgemeinden verstehen). Auch uns hindert die Zugehörigkeit zur Bruderschaft nicht daran, einer Gemeinde anzugehören. Der Konvent ist nicht unsere Gemeinde. Dennoch hat die Bruderschaft auch stellvertretende Funktion - weil sie etwas verwirklicht, was sonst in der Kirche und in ihren Gemeinden und Einrichtungen kaum die Chance auf Verwirklichung hat.  

 

“Wenn Tausende und Abertausende sogenannte Christen das Lob Gottes und das Gebet versäumen, so soll doch in dieser gottlosen Welt die Kette des Gebetes nicht abreißen und bei Tag und Nacht dem Psalmgebet die menschliche Stimme nie mangeln”, sagt Stählin über das Mönchtum und das Bruderschaftswesen.  

 

Und heute soll es dabei vor allem darum gehen, was unser persönlich Leben im Alltag an unseren jeweiligen Orten abseits der Konvente, der regionalen bzw. digitalen Treffen für eine Rolle dafür spielt. 

  

Ich hole dazu ein wenig weiter aus, bevor ich zur eigentlichen Fragestellung komme. Ich beginne mit einer persönlichen Erinnerung, aus meiner Zeit als Schüler. Vielleicht drei Jahre vor dem Abitur habe ich mich mit der Frage befasst, ob Theologie für mich in Frage kommt oder ob ich nach Alternativen Ausschau halten soll. In diesem Zusammenhang bin ich einmal nach Hermannsburg gefahren, von dort kam der Jugendleiter unserer Gemeinde her, um mir das dortige Missions-Seminar anzuschauen, dafür hatte ich sogar zwei Tage schulfrei bewilligt bekommen. Dieses Missionsseminar hat mich unglaublich fasziniert. Das hat möglicherweise mit den damals prägenden leitenden Persönlichkeiten zu tun, sie hießen Olaf Hanssen und Reinhard Deichgräber, aber es waren vor allem die Studierenden selbst, die mich beeindruckten. Die Art und Weise, wie sie sich gaben, wie sie sich bewegten, was sie ausstrahlten, die von Konzentration und Präsenz geprägte Atmosphäre haben mich damals tief bewegt. So etwas habe ich dann nur in Klöstern oder in Taizé wieder angetroffen. Ich weiß noch, dass ich enttäuscht war, als ich mein Studium an der kirchlichen Hochschule in Wuppertal aufnahm und dort dasselbe so nicht erlebte, was ich offensichtlich insgeheim erwartet hatte.  

  

Sehr viel später ist mir klar geworden, was das gewesen ist, das mich da so angerührt hatte. Das Leben in diesem Seminar war sehr diszipliniert und offensichtlich spielte die intensive Einübung einer gemeinsamen und persönlichen Spiritualität eine ganz zentrale Rolle. Das wirkte in keiner Weise irgendwie gesetzlich auf mich – und von gesetzlicher Frömmigkeit weiß ich von meinem frommen Waldbröl eine ganze Menge zu erzählen – es wirkte vor allem gründlich eingeübt und manches davon schien mir geradezu in Fleisch und Blut übergegangen zu sein. Die in diesem Seminar herrschende Atmosphäre und der Habitus der Studierenden korrespondierten miteinander.  

  

Diese Erfahrung hat mich auch später nie losgelassen, ich habe mich sogar sehr viel später diesbezüglich an einer Promotion versucht, aber damit war ich dann doch überfordert. Was ich aber verstanden habe und hier auch weitergeben möchte, kann ich in den folgenden 12 Thesen zusammenfassen  

  

1. Jedem Menschen ist ein bestimmter sogenannter Habitus zu eigen. 

 

Unter Habitus verstehen wir die Art und Weise, wie ein Mensch sich gibt, wie er erscheint wie er spricht, wie er sich bewegt usw., was alles typisch ist für den Jeweiligen, weswegen man ihn übrigens auch zur allgemeinen Erheiterung imitieren und nachahmen kann – und jeder weiß wer gemeint ist. (Mit dem Habitus haben sich als Soziologen vor allem Norbert Elias und Pierre Bourdieu befasst.)

 

2. Dort, wo Menschen zusammen sind, herrscht stets eine bestimmte Atmosphäre, von der die Anwesenden gemeinsam erfasst sind.  

 

Ob wir uns in einer Fußgängerzone aufhalten oder am Hauptbahnhof, in einer Kirche oder in einem Fußballstadion, in einem Opernhaus oder in einem Schützenfestzelt, am Flughafen oder im Brauhaus – überall herrscht eine ganz bestimmte und für den jeweiligen Ort typische Atmosphäre, die auf die Anwesenden einwirkt. (Philosophisch hat sich mit den Atmosphären in diesem Sinne der 2021 verstorbene Kieler Philosoph Hermann Schmitz befasst, von dem wiederum der Göttinger praktische Theologe Manfred Josuttis stark beeinflusst ist.) 

 

3. Zwischen den Habitus von Menschen und der Atmosphäre, die zwischen am selben Ort anwesenden Menschen herrscht, kann es zu Wechselwirkungen kommen:  

 

Die Atmosphäre kann auf den Habitus einwirken, umgekehrt kann der Habitus eines Menschen auch auf die jeweilige Atmosphäre einwirken. Habitus und Atmosphäre spiegeln sich gegenseitig ineinander. Es ist auch denkbar, dass es zwischen Atmosphäre und Habitus zu Spannungen und Konflikten kommt. (Wenn ich z.b in aufgeräumter, gelassener Stimmung bin und nach Hause komme, und dort herrscht gerade Kniest oder Anspannung dann stellt sich die Frage: werden die anderen von meiner Gelassenheit angesteckt, oder werde ich von der hier herrschenden Hektik überwältigt. Strahlt die herrschende Atmosphäre auf mich aus oder strahle ich auf die anderen Anwesenden aus?) 

 

4. Im Normalfall stellen sich Atmosphäre und Habitus unwillkürlich und unbewusst ein.  

 

Uns ist stets ein Habitus zu eigen und treffen, wenn Menschen zusammen sind, stets auf eine Atmosphäre, die zwischen ihnen herrscht. Es sind jeweils viele Faktoren die zu einer herrschenden Atmosphäre oder zu einem Habitus einer Person beitragen. 

 

5. Wir haben jedoch die Möglichkeit, Habitus und Atmosphäre zu beeinflussen. Dazu bedarf es jedoch der Übung.  

 

Sowohl der Habitus als auch die Atmosphäre lässt sich weder – auf der einen Seite – zu 100% steuern noch sind wir beidem einfach nur ausgeliefert. Wir haben die Möglichkeit, Habitus und Atmosphäre zu beeinflussen. Dazu bedarf es jedoch der Übung. 

 

6. Übung, das Üben und Einüben (Askese, Exerzitium) ist ein Kennzeichen des Menschlichen.  

 

Alles, was wir beherrschen, alle Fähigkeiten, über die wir verfügen, haben wir irgendwann im Laufe unseres Lebens eingeübt und geübt, angefangen vom Laufen lernen, von der Benutzung von Messer und Gabel, vom Sprechen lernen bis hin zum Klavierspiel oder zum Autofahren. Üben setzt ein mit spielerischem Ausprobieren und dann mit stetiger, geduldiger Wiederholung, bei der das, was eingeübt wird, immer besser gelingt. (Die Übung ist auch Gegenstand philosophischer Reflexion gewesen, schon bei Aristoteles, danach allerdings erst im 20. Jahrhundert, in der Nachkriegszeit, bei Otto Friedrich Bollnow und Peter Sloterdijk.) Es geht also wie gesagt, bei der Übung der Spiritualität um die Einübung einer bestimmten Atmosphäre und eines bestimmten Habitus. Wenn wir beispielsweise eine Menschen begegnen, der in sich ruht und der tiefenentspannt ist, dann können wir davon ausgehen dass sich so etwas nicht spontan und unwillkürlich einstellt sondern dass das lange geübt ist.  

 

7. Die Übung hat eine nachhaltige Auswirkung auf unsere persönliche oder gemeinschaftliche Ausstrahlung.  

 

Ohne es zu wissen oder zu wollen, haben wir eine Wirkung auf andere, auch solche die zufällig in unserer Nähe sind. Man spricht dann gerne auch von Resonanz, ein zentraler Begriff der sogenannten Soziologie der Weltbeziehungen, die der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa geprägt hat. Der Begriff Resonanz kommt aus der Musik; wir reden davon, wenn die Eigenschwingung eines Musikinstrumentes sich auf andere Klangkörper überträgt.  

 

8. Eine geübte und damit ausstrahlungsreiche, resonante Spiritualität lässt sich an fünf Merkmalen feststellen.  

 

Sie ist erkennbar an der ... 

…Gelassenheit, "Tiefen"-Entspannung, die Fähigkeit, "in sich zu ruhen". 

…Fähigkeit, präsent, achtsam, aufmerksam zu sein, andere(s) wahrzunehmen, zuzuhören. 

…Authentizität, Glaubwürdigkeit, Wahrhaftigkeit 

…Verlässlichkeit, Verbindlichkeit, Entschlossenheit 

...Tradition, Geschichte oder Vorbild, an die oder das man anknüpft oder sich anschließt.

 

9. Der christliche Glaube ist nicht nur eine Angelegenheit des Wissen und Kennens, der Zustimmung und des Bekenntnisses, sondern auch des Übens und Könnens, der Ausübung und Gestaltung.  

 

Der schon genannte Otto Friedrich Bollnow hat darauf hingewiesen, dass "Lernen" aus zwei fundamentalen Bestandteilen besteht, aus dem "Kennen lernen" und dem "Können lernen", also auf der einen Seite aus dem Wahrnehmen und Verstehen von Sachverhalten und Zusammenhängen und auf der andern Seite aus der Einübung und Ausübung von Fertigkeiten, Fähigkeiten und Kompetenzen. Zwischen dem Kennenlernen und der Übung kann man als Zwischenzone das Spiel ansiedeln, das auch Lerneffekte erzeugt, aber absichtslos geschieht, während das Üben absichtsvoll ist. Das "Üben" ist ein Kennzeichen des Menschlichen, es ist im Unterschied zum Tier typisch für den Menschen; der sprachschöpferische Sloterdijk hat dafür den Begriff "Anthropotechnik", die Technik des Menschseins erfunden. Von frühester Kindheit an bis ins hohe Alter übt der Mensch, laufen, sprechen, den Gebrauch von Messer und Gabel, Autofahren, Klavier spielen, Psalmen singen usw. Das tut er unbewusst und automatisch oder aber bewusst und gezielt. Gleichwohl haben Philosophie, Anthropologie und Pädagogik dem Phänomen der Übung bis in die 1970ger Jahre hinein kaum Beachtung geschenkt, weil "üben" irgendwie was Langweiliges, Stupides, Ermüdendes ist und man um der Lerneffekte eher auf das, was spannend, interessant, überraschend ist, setzte. Lediglich Immanuel Kant hat in seiner Kritik der reinen Vernunft mal darauf hingewiesen, dass der Gebrauch der der Urteilskraft nicht nur die Kenntnisnahmen der dazu nötigen Regeln und Gesetzmäßigkeiten erfordert, sondern auch die gründliche Übung ihres Gebrauch. Aber sonst war der übende Mensch nie wirklich Thema, bis sich Bollnow dessen annahm: 

 

"Das weitaus meiste des zum Leben benötigten Könnens muss der Mensch erst lernen. Das Erlernen eines Könnens ist aber, wie wir schon sagten, etwas anderes als das Erwerben von Wissen. Es wird nicht auf einmal, durch ein einfaches Kennenlernen erworben, durch Belehrung eines Lehrers oder der Sachen selbst. Es bedarf vielmehr der Übung, um durch häufige Wiederholung, allmählich eine immer größere Vollkommenheit zu erreichen. Mit jeder Handlung, die der Mensch verrichtet, wird zugleich eine Disposition geschaffen, die die Wiederholung dieser Handlung erleichtert, und durch fortgesetzte Wiederholung bildet sich dann das Können im Sinn einer jederzeit verfügbaren Fähigkeit. Alles Können entsteht durch Übung. Dabei gelangt das zunächst nur mühsam Geübte allmählich zu einer immer größeren Leichtigkeit." 

 

Bollnow macht dabei auf zweierlei aufmerksam. Zum einen, dass der sprachliche Ursprung des Begriffs "üben" religiöser Natur ist und  auf einen bewussten und genauen Vollzug eine heiligen Handlung hinweist. Sloterdijk, der bemüht ist, alles Religiöse in die Anthropologie hinein aufzulösen, spricht von "Vertikalspannung", im Gegensatz gewissermaßen zur Entspannung in der Horizontalen.  Zum anderen aber hat das Üben an sich eine nachhaltige Wirkung auf den Übenden. Durch die Erfahrung, dass Übung zur Geläufigkeit, Beherrschung, Souveränität, Leichtigkeit führt, gewinnt an innerer Stabilität und Reife und kommt mit sich nach und nach ins Reine. Bollnow schreibt: 

 

"Alles menschliche Leben befindet sich, so wie es im alltäglichen Dasein zunächst gegeben ist, in einem Zustand, wo es nicht so ist, wie es seinem Wesen nach sein könnte und sein sollte, in einem Zustand der Nachlässigkeit und Zerstreutheit... Und der Mensch fühlt mehr oder weniger deutlich die Aufgabe, sich zu seinem eigentlichen, wirklichen und wahren Leben zu erheben. Hier setzt die große anthropologische Bedeutung der Übung ein… Hier wird er wie von selbst in die Verfassung des richtigen Lebens hineinversetzt, zu der er auf andere Weise nicht gelangen könnte."

  

Im Blick auf Glauben und Spiritualität heißt das:  

 

Es hilft wenig, wenn wir unsere "Rechtfertigung allein aus Gnaden durch den Glauben" nur zur Kenntnis nehmen und ihr zustimmen. Vielmehr gilt von ihr, was Kant über die Urteilskraft sagt: Es reicht nicht, nur ihre Regeln und Gesetzmäßigkeit zur Kenntnis zu nehmen und zu verstehen, wie müssen sie auch anwenden. Wir müssen die Rechtfertigung anwenden und uns in ihr regelrecht üben. Dass wir versöhnt sind, Frieden mit Gott haben, in Sicherheit sind, kann sich nur dann auf den Lebensvollzug auswirken, wenn wir uns dies immer und immer wieder bewusst und klar machen, weil gerade dieser Sachverhalt sehr schnell dem Bewusstsein entweicht. 

 

10. Dass der Glaube Sache der Übung ist, wird im Neuen Testament völlig selbstverständlich vorausgesetzt und ist in der heutigen kirchlichen Wirklichkeit in Vergessenheit geraten. 

 

Wilhelm Stählin hat in seinem Buch “Bruderschaft” darauf aufmerksam gemacht. 

  

“Reden wir... nur von Ordnung und Übung des geistlichen Lebens... Mit welchem Nachdruck mahnen die Briefe des Neuen Testaments zum Eifer in der Heiligung, zum ernsthaften Kampf, zur geistlichen Übung! Wir sollen der Heiligung nachjagen und in ihr “fortfahren”; wir sollen “bis aufs Blut widerstehen” und die uns angebotene Rüstung, die Waffen des Lichtes anlegen und gebrauchen; wir sollen “im Geist wandeln”. Es gibt “gute Werke” zu denen wir geschaffen sind und wir sollen “etwas sein zum Lobe seiner Herrlichkeit”. Wir sollen uns “üben an der Gottseligkeit”, damit wir nicht stecken bleiben auf der Stufe des Anfängers, sondern eine geübte geistliche Urteilskraft gewinnen und wachsen und reifen zum Voll-Alter Christi, auch indem wir andern auf diesem Weg der Heiligung des geistlichen Wachstums behilflich sind.” (Bruderschaft, 42; im Original sind die jeweiligen Bibelstellen notiert.) 

 

Demgegenüber steht die Wirklichkeit der evangelischen Kirche seiner Zeit: 

 

“Unsere offiziellen Kirchen gewähren dem Einzelnen weder den Segen fester Verpflichtung noch die Hilfe praktischer Weisung.” 

 

(Gemeinde:) „Nicht ein reich gegliederter Organismus, in dessen Organen und Funktionen der Leib Christ sich darstellt und wachstümlich verwirklicht; sondern ein ungegliederter Haufe von Predigthörern und Objekten kirchlicher Unterweisung... Die... Pfarrgemeinden sind entgegen ihrem Namen faktisch kaum etwas anderes als Verwaltungseinheiten und Arbeitssprengsel, und zugleich haben”… sie “rechtlich und tatsächlich das unbestrittene Monopol als die einzige Form kirchlicher Gemeinschaftsbildung”. 

 

Diese Situation hat sich bis heute nicht wesentlich geändert. In Düsseldorf sollen alle 17 Gemeinden ab der Presbyteriumsneuwahl 2028 zu einer stadtweiten und mit dem Kirchenkreis flächenmäßig identischen Kirchengemeinde fusioniert werden. Das ist nicht einmal eine so ganz schlechte Idee, jedoch kommt in den veröffentlichten Papieren der Begriff “Gemeinde” nirgendwo mehr vor. Gewiss wird ihre Existenz stillschweigend irgendwie vorausgesetzt, aber eben nur stillschweigend. Die Gemeinde und ihre Bildung und Pflege, ihr Wachstum wird als Ziel nicht mehr genannt. Stattdessen ist eine zentral gesteuerte Bildungs-, Seelsorge-, Ritual- und Kasualagentur geplant. 

 

Es ist auffällig, dass unsere Kirchen sehr bemüht sind, Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu erregen und dafür massiv Öffentlichkeitsarbeit betreiben. Dass sie eine professionelle und gründliche Öffentlichkeitsarbeit brauchen, das ist keine Frage, aber darüber hinaus kümmern sie sich so gut wie überhaupt nicht um die Frage, was sie eigentlich auf die Gesellschaft um sie herum ausstrahlen bzw. welche Resonanz wir auslösen. Im Vergleich dazu haben die Gemeinden des neuen Testamentes so gut wie keine Werbung und keine Öffentlichkeitsarbeit geleistet (ganz einfach, weil es dieses Phänomen damals nicht gab) waren aber im hohen Maße resonant und hatten eine große Ausstrahlung, was die Wachstumsdynamik dieser Zeit erklärt. 

 

11. An dieser Stelle können wir Michaelsbrüder möglicherweise einen maßgeblichen Beitrag zum kirchlichen Leben leisten,  

 

und zwar indem wir uns intensiv und dauerhaft und geduldig im geistlichen Leben, in der Spiritualität üben, üben, üben, wodurch wir selbst innere Souveränität gewinnen und auf die uns umgebende Gesellschaft einwirken, oft, ohne dass uns das wirklich bewusst wird oder ohne dass wir das beabsichtigt haben werden. Wenn wir nicht gerade auf Konventen, bei regionalen oder digitalen Treffen oder auf dem Michaelsfest sind, halten wir uns in der Regel im Umfeld unserer jeweiligen Ortsgemeinden oder an anderen kirchlichen Orten auf. Irgendwann wird unsere Mitgliedschaft in der Bruderschaft spürbar, erlebbar oder zum Thema. Wir machen keine Werbung dafür, aber wir pflegen auch keine Arkandisziplin. Wir sind kein Geheimbund, jeder soll wissen, wohin wir gehören. Jeder, der will, soll auch wissen, dass wir unsere Bruderschaft als stellvertretend für die Kirche betrachten. Ohne selbst Gemeinde zu sein, nehmen  wir wahr, was eigentlich Sache der Gemeinde sein müsste. Wir üben uns im Glauben und in der Spiritualität, weder ohne darüber groß zu reden noch darum ein Geheimnis zu machen. Im besten Fall strahlen wir aus, was wir leben und gelangen in ein Resonanzverhältnis hinein. Wenn so etwas entsteht, dann entsteht so etwas von selbst. Das aber setzt voraus, dass wir uns konsequent in der Spiritualität und in der Regel üben, nicht nur, wenn wir zusammen sind, sondern auch und gerade dann, wenn wir alleine sind. Wir üben uns im Schweigen und Loslassen, im Lesen, in der Gottesbegegnung und im Gebet, in der Liturgie, in unseren Ritualen, in Achtsamkeit und Geistesgegenwart, im gegenseitigen Erzählen und Zuhören, in der Fürbitte und in der Verbindlichkeit. Wir öffnen unsere Häuser oder treffen uns an anderen Orten, um andere an unseren Übungen teilhaben zu lassen. Gerade in den Zeiten, wo wir nicht zusammen sind, übernehmen wir dafür als Brüder Verantwortung. 

 

Roger Mielke hat in seinem Aufsatz zur Regel in dem grünen Manuale geschrieben: Die Regel ist „keine strategische Maßnahme zur Förderung der Kirche.“ Das wäre in der Tat eine Anmaßung und darüber hinaus eine völlige Selbstüberforderung. „Vielmehr geht es in der Regel um ein „Sein“, um eine Verleiblichung, eine persönliche Gestaltwerdung.“ schreibt Roger weiter. Da nimmt etwas Gestalt an, zunächst sehr, sehr klein, was aber möglicherweise dennoch, wenn auch im geringen Ausmaß Wirkung zeigt, ausstrahlt, Resonanz auslöst. Das, was da heranwächst, ist nicht mehr, „als das normale Christenleben, freilich in einem Umfeld, in einer Zeitgenossenschaft, der genau dies, bei aller vielleicht vorhandenen christlichen Imprägnierung, sehr fremd ist.“ Roger nennt es einen „Kristallisationskern einer Gemeinschaft, der Anschluss ermöglicht". Wir gesagt, wie fragen nicht, wie können andere Anschluss an uns finden, aber wir schließen auch nicht aus, dass andere möglicherweise Anschluss finden. Darüber machen wir uns keine Sorgen. In der letzten, der 12., These soll es darum gehen, wie dies heute uns in unserem Alltag möglich ist. 

 

12. Die Regel dient zur Orientierung und als Leitfaden – Die Brüder machen sie sich vertraut, verinnerlichen sie, legen sie aus und überprüfen das eigene Leben an ihr (auch im Gespräch mit dem Helfer) 

 

Noch einmal zitiere ich aus Rogers Aufsatz aus dem grünen Manuale: „Die Regel soll zu einem Leben im Alltag anleiten. Dieses erfordert hohes Verantwortungsbewusstsein und die Urteilsfähigkeit des Einzelnen, wie er die geistliche Grundhaltung im Alltag bewähren und ausstrahlungskräftig leben kann.“ 

 

Unsere Bruderschaft ist nicht hierarchisch aufgebaut und es gibt bei uns kein Gehorsamsgelübde. Das hat zur Folge, dass jeder Bruder ein hohes Maß an Verantwortung trägt. Das Gedeihen der Bruderschaft hängt maßgeblich davon ab, inwieweit die Brüder diese Verantwortung wahrnehmen, gerade auch in deren Alltag. Es kommt tatsächlich auf jeden an, auch auf jeden von uns.  

 

Im Blick auf die Urkunde und die Regel der Bruderschaft hat das, soweit ich das überblicke, zwei Konsequenzen.  

 

Wir müssen uns die Regel auch in ihrem Wortlaut vertraut machen. Immer wieder lesen. Sie muss uns zum inneren Besitz werden wir andere Grundtexte auch, seien es der kleine Katechismus oder die Barmer Erklärung. Die militärisch-apokalyptische Sprache mit dem Kampf und der Zucht und den Streitern ist wahrlich nicht unsere Sprache. Dennoch haben die Brüder damals ziemlich genau getroffen, was damals auf dem Spiel stand und heute noch steht. Die Sprache ist veraltet, das Anliegen hochaktuell. Als wir in die Michaelsbruderschaft getreten sind, haben wir uns einer Geschichte angeschlossen, eine übrigens sehr beeindruckende Geschichte. Was die Stifterbrüder in den Jahren 1923 bis 1931 und davor und danach, geleistet haben, ist ausgesprochen eindrucksvoll. Ohne diese Geschichte ist die Michaelsbruderschaft nicht zu verstehen. Deswegen müssen wir auf jeden Fall das Gründungsdokument im Bewusstsein halten.  

 

Wir müssen die Regel nicht 1:1 in unser Leben übersetzen, das ist auch weder so gemeint noch so möglich. Die Regel ist ein Dokument der 1920-Jahre und die Rahmenbedingen haben sich seitdem in vieler Hinsicht geändert. Der Sinn der Regel ist, anhand ihrer den eigenen Alltag und das eigene Leben zu überprüfen, zu entscheiden und festzulegen, wie es geführt werden soll und sie dann im Leben umzusetzen. Es bietet sich an, im Gespräch mit dem Helfer, Urkunde und Regel gemeinsam zu lesen und dies in gewissen Abständen auch immer wieder zu tun und zu überlegen: Wie spiegelt sich die Regel in meinem Leben wieder.  

 

Ich möchte gerne mit einem Abschnitt aus dem Kapitel „Lebensführung“ in Stählins Buch „Bruderschaft“, mit dem ich noch mal deutlich machen möchte, dass die Frage der Regel und ihrer Umsetzung alles andere ist als ein Spaziergang und unsere Aufmerksamkeit sehr beansprucht. Wie wollen keine neue Gesetzlichkeit pflegen, aber mit der gebotenen Aufmerksamkeit die Frage unseres Alltags und unsere Lebensführung angehen: 

 

„Erlaube dir keine Unpünktlichkeit und Unzuverlässigkeit auch im Kleinsten und Geringsten, keine Nachlässigkeit deiner Schrift, keine schlechte Körperhaltung; überlass dich nie deiner schlechten Laune oder deiner natürlichen Abneigung gegen andere Menschen, an denen du eine Aufgabe hast; dulde in deinen menschlichen Beziehungen, in deinen Freundschaften und in deiner Ehe keine Unklarheiten und Halbheiten; reiße dich entschlossen los aus allen Träumereien, in denen Missmut, Hass, Verzweiflung über dich Macht gewinnen kann! (…) Es wäre ein böser Irrtum, zu meinen, dass es nicht auch bei den Aufgaben einer geistlichen Bruderschaft ein solches ABC gäbe, das man wirklich zuerst und vor allem anderen lernen und üben muss!"

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