Krisallisationskerne - 12 Thesen

Öffentliche Fassung eines internen Berichts für Mitglieder und Gäste des rheinisch-westfälischen Konvents der Ev. Michaelsbruderschaft auf dem Johannis-Konvent am 29. Juli 2024 in der Wasserburg Rindern in Kleve

 

Schon Martin Luther hat es bedauert. Von Anfang an war die evangelische Kirche Landeskirche, öffentliche Kirche, mit einer staatsanalogen Ordnung. Das ging nicht anders, denn sonst wäre die Reformation nicht durchführbar gewesen. Die Folge war, dass Entstehung, Bildung und Wachstum von Gemeinschaft und Gemeinde es immer schon schwer hatten und haben. Das war zu neutestamentlichen Zeiten ganz anders. Bevor es eine Kirche gab, waren die Gemeinden schon da. Erst, als die Gemeinden sich zu Gemeinde-Verbänden zusammenschlossen, war damit auch die Kirche erlebbar. Aber Gemeinden sind auf die Kirche nicht zwingend angewiesen. Sie könnten auch ohne sie existieren. Dass sie allerdings nicht in der der Vereinzelung geblieben sind und die Kirche gebildet haben, ist faszinierend zu beobachen. Von Anfang an war klar, dass Gemeinden nur dann existieren können, wenn sie auch Kirche sind, Kirche vor Ort. So sehr die Gemeinden notfalls auch ohne die Kirche sein könnten, so sehr ist die Kirche auf die Gemeinden angewiesen. Sie sind der Ort, wo die Christinnen und Christen selber Kirche sind, und diese sind es, durch die die Kirche erlebbar und anschaulich werden.

 

Hier soll es darum gehen, wie das geht, oder wie das gehen kann. Ich hole dazu ein wenig weiter aus, bevor ich zur eigentlichen Fragestellung komme. 

 

Ich beginne mit einer persönlichen Erinnerung, aus meiner Zeit als Schüler. Vielleicht drei Jahre vor dem Abitur habe ich mich mit der Frage befasst, ob Theologie für mich in Frage kommt oder ob ich nach Alternativen Ausschau halten soll. In diesem Zusammenhang bin ich einmal nach Hermannsburg gefahren, von dort kam der Jugendleiter unserer Gemeinde her, um mir das dortige Missions-Seminar anzuschauen, dafür hatte ich sogar zwei Tage schulfrei bewilligt bekommen. Dieses Missionsseminar hat mich unglaublich fasziniert. Das hat möglicherweise mit den damals prägenden leitenden Persönlichkeiten zu tun, sie hießen Olaf Hanssen und Reinhard Deichgräber, aber es waren vor allem die Studierenden selbst, die mich beeindruckten. Die Art und Weise, wie sie sich gaben, wie sie sich bewegten, was sie ausstrahlten, die von Konzentration und Präsenz geprägte Atmosphäre haben mich damals tief bewegt. So etwas habe ich dann nur in Klöstern oder in Taizé wieder angetroffen. Ich weiß noch, dass ich enttäuscht war, als ich mein Studium an der kirchlichen Hochschule in Wuppertal aufnahm und dort dasselbe so nicht erlebte, was ich offensichtlich insgeheim erwartet hatte.  

  

Sehr viel später ist mir klar geworden, was das gewesen ist, das mich da so angerührt hatte. Das Leben in diesem Seminar war sehr diszipliniert und offensichtlich spielte die intensive Einübung einer gemeinsamen und persönlichen Spiritualität eine ganz zentrale Rolle. Das wirkte in keiner Weise irgendwie gesetzlich auf mich, es wirkte vor allem gründlich eingeübt und manches davon schien mir geradezu in Fleisch und Blut übergegangen zu sein. Die in diesem Seminar herrschende Atmosphäre und der Habitus der Studierenden korrespondierten miteinander.  

  

Diese Erfahrung hat mich auch später nie losgelassen.  Was dahinter steht, kann ich in den folgenden 12 Thesen zusammenfassen:

  

1. Jedem Menschen ist ein bestimmter sogenannter Habitus zu eigen. 

 

Unter Habitus verstehen wir die Art und Weise, wie ein Mensch sich gibt, wie er erscheint wie er spricht, wie er sich bewegt usw., was alles typisch ist für den Jeweiligen, weswegen man ihn übrigens auch zur allgemeinen Erheiterung imitieren und nachahmen kann – und jeder weiß wer gemeint ist. (Mit dem Habitus haben sich als Soziologen vor allem Norbert Elias und Pierre Bourdieu ("Die feinen Unterschiede") befasst.)

 

2. Dort, wo Menschen zusammen sind, herrscht stets eine bestimmte Atmosphäre, von der die Anwesenden gemeinsam erfasst sind.  

 

Ob wir uns in einer Fußgängerzone aufhalten oder am Hauptbahnhof, in einer Kirche oder in einem Fußballstadion, in einem Opernhaus oder in einem Schützenfestzelt, am Flughafen oder im Brauhaus – überall herrscht eine ganz bestimmte und für den jeweiligen Ort typische Atmosphäre, die auf die Anwesenden einwirkt. (Philosophisch hat sich mit den Atmosphären in diesem Sinne der 2021 verstorbene Kieler Philosoph Hermann Schmitz befasst, von dem wiederum der Göttinger praktische Theologe Manfred Josuttis stark beeinflusst ist.) 

 

3. Zwischen den Habitus von Menschen und der Atmosphäre, die zwischen am selben Ort anwesenden Menschen herrscht, kann es zu Wechselwirkungen kommen:  

 

Die Atmosphäre kann auf den Habitus einwirken, umgekehrt kann der Habitus eines Menschen auch auf die jeweilige Atmosphäre einwirken. Habitus und Atmosphäre spiegeln sich gegenseitig ineinander. Es ist auch denkbar, dass es zwischen Atmosphäre und Habitus zu Spannungen und Konflikten kommt. (Wenn ich z.b in aufgeräumter, gelassener Stimmung bin und nach Hause komme, und dort herrscht gerade Kniest oder Anspannung dann stellt sich die Frage: werden die anderen von meiner Gelassenheit angesteckt, oder werde ich von der hier herrschenden Hektik überwältigt. Strahlt die herrschende Atmosphäre auf mich aus oder strahle ich auf die anderen Anwesenden aus?) 

 

4. Im Normalfall stellen sich Atmosphäre und Habitus unwillkürlich und unbewusst ein.  

 

Uns ist stets ein Habitus zu eigen und treffen, wenn Menschen zusammen sind, stets auf eine Atmosphäre, die zwischen ihnen herrscht. Es sind jeweils viele Faktoren die zu einer herrschenden Atmosphäre oder zu einem Habitus einer Person beitragen. 

 

5. Wir haben jedoch die Möglichkeit, Habitus und Atmosphäre zu beeinflussen. Dazu bedarf es jedoch der Übung.  

 

Sowohl der Habitus als auch die Atmosphäre lässt sich weder – auf der einen Seite – zu 100% steuern noch sind wir beidem einfach nur ausgeliefert. Wir haben die Möglichkeit, Habitus und Atmosphäre zu beeinflussen. Dazu bedarf es jedoch der Übung. 

 

6. Übung, das Üben und Einüben (Askese, Exerzitien) ist ein Kennzeichen des Menschlichen.  

 

Alles, was wir beherrschen, alle Fähigkeiten, über die wir verfügen, haben wir irgendwann im Laufe unseres Lebens eingeübt und geübt, angefangen vom Laufen lernen, von der Benutzung von Messer und Gabel, vom Sprechen lernen bis hin zum Klavierspiel oder zum Autofahren. Üben setzt ein mit spielerischem Ausprobieren und dann mit stetiger, geduldiger Wiederholung, bei der das, was eingeübt wird, immer besser gelingt. (Die Übung ist auch Gegenstand philosophischer Reflexion gewesen, schon bei Aristoteles, danach allerdings erst im 20. Jahrhundert, in der Nachkriegszeit, bei Otto Friedrich Bollnow und Peter Sloterdijk.) Es geht also wie gesagt, bei der Übung der Spiritualität um die Einübung einer bestimmten Atmosphäre und eines bestimmten Habitus. Wenn wir beispielsweise eine Menschen begegnen, der in sich ruht und der tiefenentspannt ist, dann können wir davon ausgehen dass sich so etwas nicht spontan und unwillkürlich einstellt sondern dass das lange geübt ist.  

 

7. Die Übung hat eine nachhaltige Auswirkung auf unsere persönliche oder gemeinschaftliche Ausstrahlung.  

 

Ohne es zu wissen oder zu wollen, haben wir eine Wirkung auf andere, auch solche die zufällig in unserer Nähe sind. Man spricht dann gerne auch von Resonanz, ein zentraler Begriff der sogenannten Soziologie der Weltbeziehungen, die der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa geprägt hat. Der Begriff Resonanz kommt aus der Musik; wir reden davon, wenn die Eigenschwingung eines Musikinstrumentes sich auf andere Klangkörper überträgt.  

 

8. Eine geübte und damit ausstrahlungsreiche, resonante Spiritualität lässt sich an fünf Merkmalen feststellen.  

 

Sie ist erkennbar an der ... 

…Gelassenheit, "Tiefen"-Entspannung, die Fähigkeit, "in sich zu ruhen". 

…Fähigkeit, präsent, achtsam, aufmerksam zu sein, andere(s) wahrzunehmen, zuzuhören. 

…Authentizität, Glaubwürdigkeit, Wahrhaftigkeit 

…Verlässlichkeit, Verbindlichkeit, Entschlossenheit 

...Tradition, Geschichte oder Vorbild, an die oder das man anknüpft oder sich anschließt.

 

9. Der christliche Glaube ist nicht nur eine Angelegenheit des Wissen und Kennens, der Zustimmung und des Bekenntnisses, sondern auch des Übens und Könnens, der Ausübung und Gestaltung.  

 

Der schon genannte Otto Friedrich Bollnow hat darauf hingewiesen, dass "Lernen" aus zwei fundamentalen Bestandteilen besteht, aus dem "Kennen lernen" und dem "Können lernen", also auf der einen Seite aus dem Wahrnehmen und Verstehen von Sachverhalten und Zusammenhängen und auf der andern Seite aus der Einübung und Ausübung von Fertigkeiten, Fähigkeiten und Kompetenzen. Zwischen dem Kennenlernen und der Übung kann man als Zwischenzone das Spiel ansiedeln, das auch Lerneffekte erzeugt, aber absichtslos geschieht, während das Üben absichtsvoll ist. Das "Üben" ist ein Kennzeichen des Menschlichen, es ist im Unterschied zum Tier typisch für den Menschen; der sprachschöpferische Sloterdijk hat dafür den Begriff "Anthropotechnik", die Technik des Menschseins erfunden. Von frühester Kindheit an bis ins hohe Alter übt der Mensch, laufen, sprechen, den Gebrauch von Messer und Gabel, Autofahren, Klavier spielen, Psalmen singen usw. Das tut er unbewusst und automatisch oder aber bewusst und gezielt. Gleichwohl haben Philosophie, Anthropologie und Pädagogik dem Phänomen der Übung bis in die 1970ger Jahre hinein kaum Beachtung geschenkt, weil "üben" irgendwie was Langweiliges, Stupides, Ermüdendes ist und man um der Lerneffekte eher auf das, was spannend, interessant, überraschend ist, setzte. Lediglich Immanuel Kant hat in seiner Kritik der reinen Vernunft mal darauf hingewiesen, dass der Gebrauch der der Urteilskraft nicht nur die Kenntnisnahmen der dazu nötigen Regeln und Gesetzmäßigkeiten erfordert, sondern auch die gründliche Übung ihres Gebrauch. Aber sonst war der übende Mensch nie wirklich Thema, bis sich Bollnow dessen annahm: 

 

"Das weitaus meiste des zum Leben benötigten Könnens muss der Mensch erst lernen. Das Erlernen eines Könnens ist aber, wie wir schon sagten, etwas anderes als das Erwerben von Wissen. Es wird nicht auf einmal, durch ein einfaches Kennenlernen erworben, durch Belehrung eines Lehrers oder der Sachen selbst. Es bedarf vielmehr der Übung, um durch häufige Wiederholung, allmählich eine immer größere Vollkommenheit zu erreichen. Mit jeder Handlung, die der Mensch verrichtet, wird zugleich eine Disposition geschaffen, die die Wiederholung dieser Handlung erleichtert, und durch fortgesetzte Wiederholung bildet sich dann das Können im Sinn einer jederzeit verfügbaren Fähigkeit. Alles Können entsteht durch Übung. Dabei gelangt das zunächst nur mühsam Geübte allmählich zu einer immer größeren Leichtigkeit." 

 

Bollnow macht dabei auf zweierlei aufmerksam. Zum einen, dass der sprachliche Ursprung des Begriffs "üben" religiöser Natur ist und  auf einen bewussten und genauen Vollzug eine heiligen Handlung hinweist. Sloterdijk, der bemüht ist, alles Religiöse in die Anthropologie hinein aufzulösen, spricht von "Vertikalspannung", im Gegensatz gewissermaßen zur Entspannung in der Horizontalen.  Zum anderen aber hat das Üben an sich eine nachhaltige Wirkung auf den Übenden. Durch die Erfahrung, dass Übung zur Geläufigkeit, Beherrschung, Souveränität, Leichtigkeit führt, gewinnt an innerer Stabilität und Reife und kommt mit sich nach und nach ins Reine. Bollnow schreibt: 

 

"Alles menschliche Leben befindet sich, so wie es im alltäglichen Dasein zunächst gegeben ist, in einem Zustand, wo es nicht so ist, wie es seinem Wesen nach sein könnte und sein sollte, in einem Zustand der Nachlässigkeit und Zerstreutheit... Und der Mensch fühlt mehr oder weniger deutlich die Aufgabe, sich zu seinem eigentlichen, wirklichen und wahren Leben zu erheben. Hier setzt die große anthropologische Bedeutung der Übung ein… Hier wird er wie von selbst in die Verfassung des richtigen Lebens hineinversetzt, zu der er auf andere Weise nicht gelangen könnte."

  

Im Blick auf Glauben und Spiritualität heißt das:  

 

Es hilft wenig, wenn wir unsere "Rechtfertigung allein aus Gnaden durch den Glauben" nur zur Kenntnis nehmen und ihr zustimmen. Vielmehr gilt von ihr, was Kant über die Urteilskraft sagt: Es reicht nicht, nur ihre Regeln und Gesetzmäßigkeit zur Kenntnis zu nehmen und zu verstehen, wie müssen sie auch anwenden. Wir müssen die Rechtfertigung anwenden und uns in ihr regelrecht üben. Dass wir versöhnt sind, Frieden mit Gott haben, in Sicherheit sind, kann sich nur dann auf den Lebensvollzug auswirken, wenn wir uns dies immer und immer wieder bewusst und klar machen, weil gerade dieser Sachverhalt sehr schnell dem Bewusstsein entweicht. 

 

10. Dass der Glaube Sache der Übung ist, wird im Neuen Testament völlig selbstverständlich vorausgesetzt und ist in der heutigen kirchlichen Wirklichkeit in Vergessenheit geraten. 

 

Vor allem die Briefe des Neuen Testaments machen deutlich, dass in der Anfangsphase der jungen Kirche völlig selbst verständlich war: Der neue Glaube kann nicht nur zustimmend zur Kenntnis genommen werden, er muss vielmehr eingeübt und dann ein ganzes Leben lang geübt werden. Sie mahnen und ermutigen zum Eifer in der Heiligung, zum ernsthaften Kampf, zur geistlichen Üben, dazu, der Heiligung nachzujagen und in ihr fortfahren, die "Waffen des Lichts" anzulegen und zu gebrauchen und im Geist zu wandeln, etwas zum Lobe seiner Herrlichkeit zu sein, sich in der Gottseligkeit zu üben, ebenso in der geistlichen Urteilskraft und so wachsen und reifen und andere dabei auf diesen Weg zu unterstützen.

  

Demgegenüber steht die Wirklichkeit der evangelischen Kirche seiner Zeit: In Düsseldorf zum Beispiel sollen alle 17 Gemeinden ab der Presbyteriumsneuwahl 2028 zu einer stadtweiten und mit dem Kirchenkreis flächenmäßig identischen Kirchengemeinde fusioniert werden. Das ist nicht einmal eine so ganz schlechte Idee, jedoch kommt in den veröffentlichten Papieren der Begriff “Gemeinde” nirgendwo mehr vor. Gewiss wird ihre Existenz stillschweigend irgendwie vorausgesetzt und eines der vier Teilprojekte - neben den Teilprojekten für "Mitarbeitende", "Leitung und Organisation" und "Mitarbeitende" - dem "Evangelischem Leben" gewidmet. 

aber die Gemeinde und ihre Bildung, Pflege und Wachstum wird als Ziel nicht mehr genannt. Stattdessen ist eine zentral gesteuerte Bildungs-, Seelsorge-, Ritual- und Kasualagentur geplant. 

 

Es ist auffällig, dass unsere Kirchen sehr bemüht sind, Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu erregen und dafür massiv Öffentlichkeitsarbeit betreiben. Dass sie eine professionelle und gründliche Öffentlichkeitsarbeit brauchen, das ist keine Frage, aber darüber hinaus kümmern sie sich so gut wie überhaupt nicht um die Frage, was sie eigentlich auf die Gesellschaft um sie herum ausstrahlen bzw. welche Resonanz sie auslösen. Im Vergleich dazu haben die Gemeinden des neuen Testamentes so gut wie keine Werbung und keine Öffentlichkeitsarbeit geleistet (ganz einfach, weil es dieses Phänomen damals nicht gab), waren aber im hohen Maße resonant und hatten eine große Ausstrahlung, was die Wachstumsdynamik dieser Zeit erklärt. 

 

11. Wir können persönlich und in Gemeinschaft mit anderen einen maßgeblichen Beitrag leisten, damit wir Kirche sind,  

 

und zwar indem wir uns intensiv und dauerhaft und geduldig im geistlichen Leben, in der Spiritualität üben, üben, üben, wodurch wir selbst innere Souveränität gewinnen und auf die uns umgebende Gesellschaft einwirken, oft, ohne dass uns das wirklich bewusst wird oder ohne dass wir das beabsichtigt haben werden. Wir machen keine Werbung dafür und stellen uns nicht in der Öffentlichkeit oder in den (sozialen) Medien zur Schau, aber wir pflegen auch keine Arkandisziplin, wir sind kein Geheimbund, jeder soll mitbekommen, was wir da treiben. Jeder, der will, soll auch wissen, dass wir uns stellvertretend für andere als Kirche, als die Kirche betrachten. Wir üben uns im Glauben und in der Spiritualität, weder ohne darüber groß zu reden noch darum ein Geheimnis zu machen. Im besten Fall strahlen wir aus, was wir leben und gelangen in ein Resonanzverhältnis hinein. Wenn so etwas entsteht, dann entsteht so etwas von selbst. Das aber setzt voraus, dass wir uns konsequent im Glauben und in der Spiritualität üben, nicht nur, wenn wir zusammen sind, sondern auch und gerade dann, wenn wir alleine sind. Wir üben uns im Schweigen und Loslassen, im Lesen, in der Gottesbegegnung und im Gebet, in der Liturgie, in unseren Ritualen, in Achtsamkeit und Geistesgegenwart, im gegenseitigen Erzählen und Zuhören, in der Fürbitte und in der Verbindlichkeit. Wir öffnen unsere Häuser oder treffen uns an anderen Orten, um andere an unseren Übungen teilhaben zu lassen. 

 

12.  Nicht anders als zur Zeit des Neuen Testamentes ist die Kirche auf die Gemeinden als ausstrahlungskräftige und resonante Kristallisationskerne angewiesen. Sie können nur entstehen, wenn wir dafür die Verantwortung übernehmen und unseren Betrag leisten.

 

Die mündige Gemeinde, die "Freiheit eines Christenmenschen" und das Priestertum der Getauften sind für die evangelische Kirche konstitutiv. Gleichwohl ist davon in den kirchlichen Reformkonzepten der Gegenwart so gut wir überhaupt nicht die Rede, was wieder damit zu tun hat, dass das an den neutestamentlichen Gemeinden zu beobachtende Wachstum von unten durchgehend durch zeitgemäße Steuerung von oben ersetzt worden ist. Es kann aber keinen Zweifel geben, dass die Zukunft der evangelischen Kirche nicht von ausgeklügelten Management- und Organisationskonzepten abhängt als allein von Gemeinschaften und Gemeinden, die das Zeug haben, zu ausstrahlungskräftigen und resonanten Kristallisationskernen zu werden*

 

(*Der Vergleich mit Kristallisationskernen stammt von Roger Mielke, dem Ältesten der Evangelischen Michaelsbruderschaft)