Kirchenentwicklung auf rheinische Art

Vorgestern habe ich ein Schreiben erhalten, das mich sehr neugierig gemacht hat. Es stammt aus dem Landeskirchenamt der Rheinischen Kirche, genauer: aus dem dort angesiedelten "Arbeitsbereich Kirchenentwicklung, Strategische Innovation und Erprobungsräume" und richtete sich an die Superintendentinnen und Pfarrer der Landeskirche. Dort heißt es u. a.:

 

„Meine Kirche muss sich grundlegend ändern, wenn Sie eine Zukunft haben soll.“ Das sagen 80% der Evangelischen. So ein Ergebnis der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, die Ende letzten Jahres erschien. Aber wie und in welche Richtung soll Veränderung stattfinden? Auch darüber gibt die KMU 6 Auskunft und wirft gleichermaßen Fragen auf: Wie konkret? Wie in unserem Kontext und Sozialraum?

 

Wie muss sich Kirche entwickeln, um zukunftsfähig zu sein? Wie kommen wir mit Menschen in Kontakt, mit denen wir aktuell kaum in Berührung sind? Welche strategischen Weichenstellungen braucht es? Diese und andere Fragen beschäftigen viele Menschen in der Rheinischen Kirche. So auch uns im Arbeitsbereich Kirchenentwicklung und Strategische Innovation. In unseren Digitalveranstaltungen wollen wir sie informieren, diskutieren und den Austausch fördern.

 

Bemerkenswert daran ist, dass Kirchenentwicklung im Landeskirchenamt inhaltsfrei, ohne  Substanz, ohne Profil, ohne theologische Reflexion, ohne Vision, ohne Botschaft gedacht wird. Es geht nur noch um den Selbsterhalt der Kirche. Der wird noch nicht einmal ausdrücklich angestrebt, es soll lediglich informiert, diskutiert und der Austausch darüber gefördert werden. Oder anders formuliert: Wir wollen irgendwas, wissen aber nicht genau, was wir wollen und ob wir es wirklich wollen sollen.

 

Demgegenüber möchte ich daran erinnern, wer wir sind, falls jemand das vergessen haben sollte oder sich nicht mehr so recht erinnert. *Wir sind die evangelische Kirche. Die muss nicht entwickelt werden. Die entwickelt sich von selbst. Allerdings nur dann, wenn niemand auf die Idee kommt, er oder sie müsste sie entwickeln. Das einzige, was unsere Kirche braucht, um sich zu entwickeln, ist der Glaube. Aber wir erleben seit Jahren, zur Zeit besonders im Osten, wie der Glaube sich immer mehr zurückzieht und Platz macht für ein tiefes Misstrauen, für Hass, für Feindbilder, für grassierenden Rassismus und Antisemitismus, für Gewaltbereitschaft, für Lügen, für Zynismus, Menschenverachtung. Bevor wir also auf den Glauben zu sprechen kommen, müssen wir davon reden, dass der Glaube zerbrochen ist. Er liegt in Trümmern.

 

Als Jesus im Jordan getauft wurde, hat sich über ihm der Himmel geöffnet. Dies ist mein Sohn, an ihm habe ich Gefallen, hörte er sagen. Er hat auf eindrucksvolle Weise die Nähe Gottes gespürt. Er hat sie ausgestrahlt. Menschen sind von ihr berührt worden und sind heil geworden. Aber dann hat Gott ihn preisgegeben. Er hat ihn verstoßen und sich von ihm getrennt. Mein Gott, warum hast du mich verlassen, schrie Jesus in den leeren und nun verschlossenen Himmel. Angesichts dieser Geschichte muss jeder Glaube zerbrechen, egal ob er christlicher, jüdischer, islamischer, philosophischer, humanistischer, natürlicher Glaube oder was sonst für ein Glaube ist. Die Welt ist ohne Gott. Gott ist tot und wir haben ihn getötet. Worauf soll man da noch vertrauen und sich verlassen können? Was für einen Sinn hat das alles noch? Wer sollte noch für was Verantwortung übernehmen? Es lohnt sich nicht mehr, das Leben wert zu schätzen.

 

Nach seinem Tode ist Jesus auf eine für uns nicht nachvollziebare Weise Menschen begegnet, deren Glaube zerbrochen war und in Trümmern lag. Das war der Beginn des christlichen Glaubens. Gott hatte sich mit Menschen, die ohne Gott waren, versöhnt (2. Korinther 5,19). Er hatte Frieden mit ihnen geschlossen, ohne Bedingung und endgültig. Die Taufe war das Zeichen dafür: Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein. Mitten in der zerbrechenden Welt brach neues Vertrauen auf. Mitten in der von Gott verlassenen Welt glauben wir an Gott. Mitten in einer Welt von Menschen, die Gott los geworden sind, rufen wir ihn im Namen Jesu an. Da entwickelt sich die Kirche. Wo sonst?

 

Nun stehen wir mit unserem Glauben in dieser vom Misstrauen gezeichneten Welt. Wir zwingen niemanden unseren Glauben auf. Aber wir fragen jeden: Woran glaubst du? Misstrauen führt zu einem Selbstbehauptungswillen, zur (Selbst-)Täuschung, zur Vermeidung der Wahrheit, zum Aufbau von Feindbildern, zur Legitimierung von Gewalt. Vertrauen führt zu in sich ruhender Gelassenheit, zur Wahrhaftigkeit, zur Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, zur Verlässlichkeit, zu gegenseitiger Achtsamkeit.

 

Wir tragen mit unserem Glauben, mit unserer Botschaft, mit unserem Zeugnis zur persönlichen und öffentlichen Vertrauensbildung bei.

 

Übrigens: Karl Barth, der vielleicht größte evangelische Theologe des 20. Jahrhunderts, meinte, das Christentum sei keine Religion. Er verstand unter "Religion" den zum Scheitern verurteilten Versuch, mit Gott in Kontakt zu treten, auf ihn Einfluss zu nehmen oder ihn berechenbar zu machen. Sicher war Karl Barth dem sehr vielschichtigen und vieldimensionalen Phänomen der Religion nicht gerecht geworden. Aber er hat auf etwas Entscheidendes aufmerksam gemacht, was immer wieder in Vergessenheit zu geraten droht. Nicht wir Menschen sind es, die dazu in der Lage wären sich Gott zu nähern, auf welche Weise und auf welchen Wegen auch immer. Aber Gott selbst kommt uns nahe, völlig unabhängig davon, wie wir über ihn denken, was wir von ihm glauben und wie wir mit ihm umgehen. 

 

 

*Ursprüngliche Fassung ab hier: Wir sind die evangelische Kirche. Wir haben eine Botschaft und wir wissen, woran wir glauben.

 

Nämlich an Gott. Wir glauben, dass durch Jesus der Gott Israels auch unser Gott ist und dass er, so, wie er mit Israel den Sinai-Bund eigegangen ist, mit uns den Neuen Bund gestiftet hat. Jesus, den wir den Sohn Gottes, den Gesalbten, den Christus nennen, hat die Nähe Gottes selbst auf faszinierende Weise erlebt und er hat sie ausgestrahlt. Aber dann ist er von Gott verstoßen worden. Das schien zunächst das Ende zu sein, doch dann ist er seinen Schülerinnen und Schülern begegnet. So wurde der Glaube begründet, dass wir mit Gott versöhnt sind, nicht nur wir, sondern die ganze Welt (2. Kor 5,19), auch wenn sie davon nichts weiß. Unsere Berufung und der Sinn der Kirche bestehen darin, dies durch unser Leben zu bezeugen.

 

Es muss sich erweisen ob sowohl unser persönliches Leben wie auch das gesellschaftliche Leben auf Misstrauen oder auf Vertrauen gründet. Misstrauen führt zu einem Selbstbehauptungswillen, zur (Selbst-)Täuschung, zur Vermeidung der Wahrheit, zum Aufbau von Feindbildern, zur Legitimierung von Gewalt. Vertrauen führt zu in sich ruhender Gelassenheit, zur Wahrhaftigkeit, zur Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, zur Verlässlichkeit, zu gegenseitiger Achtsamkeit. 

 

Wenn wir Vertrauen sagen, müssen wir auch sagen, worauf wir vertrauen. Das nennen wir Glauben. Wir tragen mit unserem Glauben, mit unserer Botschaft, mit unserem Zeugnis zur persönlichen und öffentlichen Vertrauensbildung bei.

 

 

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Friedhelm Maurer (Donnerstag, 22 August 2024 12:31)

    Lieber Stephan,

    meine volle Zustimmung zu Deinem Kommentar!

    Unser Buch "Salz der Erde, Licht der Welt. Die bleibende Bedeutung der Volkskirche, CMZ Verlag Rheinbach 2023, ist als Orientierung für unsere Kirche not-wendiger denn je.