Menschlichkeit und Menschenverachtung

Während sich seit Jahren oder Jahrzehnten das Christentum aus unserer Gesellschaft zurückzuziehen scheint, breitet sich gleichzeitig zunehmend eine Kultur des Misstrauens aus. Im gleichen Maße verliert der Grundsatz der Menschlichkeit, der Humanität, der das Grundgesetz prägt ("Die Würde des Menschen ist unantastbar"), an Selbstverständlichkeit und verbindender Kraft. Die Orientierung an Ideologien, die unverhohlen Menschenverachtung zum Ausdruck bringen, wird mehr und mehr zum gängigen Modell, an dem man immer weniger Anstoß nimmt. Niemandem kann die Freiheit zum Zynismus, der in Rassismus, Antisemitismus und vermeintlich zulässiger oder notwendiger Gewalt mündet, verwehrt werden. Das ist exakt die Situation, wie sie auch am Ende der Weimarer Republik geherrscht hat, als die Nazis mit Hilfe der Deutschnationalen auf demokratische Weise an die Macht kamen.

 

Eine demokratische Gesellschaft kann nur funktionieren, wenn Sie auf einer Grundlagen von Werten aufgebaut ist, die von niemandem infrage gestellt wird. Indem die Kirche in den vergangenen Jahrzehnten den Anspruch erhoben, einen Wächteramt wahrzunehmen, hat sie für die Gesellschaft eine außerordentlich wichtige Funktion ausgeübt. Dieses Wächteramt wird ihr immer weniger zugestanden. Das ist aber kein Grund, selber den Anspruch darauf aufzugeben um sich stattdessen, wie das im Augenblick der Fall zu sein scheint, vornehmlich um den Selbsterhalt zu kümmern.

 

Dieses Wächteramt nimmt aber die Kirche nicht (nur) wahr, indem Sie zu allen möglichen Themen ihre mehr oder weniger sachverständigen Kommentare abgibt. Das ist damit gerade nicht gemeint. Werte können ihre Kraft nur entfalten, wenn sie auf einen gemeinsamen Glauben gründen und in ihm verwurzelt sind. Ihr Wächteramt kann die Kirche nur wahrnehmen, wenn Sie Glauben schafft, bzw. für Bedingungen sorgt, in dem Glaube wachsen und sich entfalten kann. Das tut sie, indem sie Antwort auf die Frage gibt, woher wir kommen und wohin wir gehen, worauf wir uns unbedingt verlassen können, was uns unbedingt angeht, was unser Sinn, unser Auftrag und unsere Berufung ist, wofür und vor wem wir verantwortlich sind.

 

Diese Antwort ziehen wir aber nicht aus irgendwelchen philosophischen Überlegungen und Erörterungen, sondern aus dem Wort, das Gott zu uns gesprochen hat. Das eben ist unser Glaube, dass es dieses Wort gibt und dass Gott uns mithilfe dieses Wortes anredet, und zwar jeden persönlich. Jede(r) muss für sich entscheiden, ob er dieses Wort für glaubwürdig erachtet und ihm Vertrauen schenkt. Und eben ohne einen solchen Glauben kann keine Gesellschaft auf Dauer existieren.

 

Nun ist offensichtlich, dass die Kirchen ihre Monopolstellung, die sie einst hatten, längst verloren haben. Wir sind längst in einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft angekommen. Daran können und wollen auch die Kirchen nichts ändern. Aber die vielen Religionen und Weltanschauungen, die in unserer Kultur ihre Wirkung entfalten, können nur koexistieren und nur nebeneinander und miteinander bestehen, wenn Sie eine gemeinsame Basis haben. Diese Basis besteht in Humanität, in Menschlichkeit, im Respekt vor dem Menschen, vor allen Menschen. Alle Religionen und Weltanschauungen haben ebenso wie die Kirche ihre Verantwortung dafür, dass sie in jeweils ihrem Sinn Glauben schaffen, Glauben als Grundlage der Werte, die sich zur Basis für eine demokratische Gesellschaft eignen. Die Alternative zum Glauben ist Verunsicherung, und diese ist es, die totalitären Bestrebungen Tür und Tor öffnet und Raum schafft für Ideologien, gleich, ob Sie rechtsextremer, islamistischer oder auch christlich-fundamentalistischer Art sind.

 

Die Kirchen haben nur dann eine Existenzberechtigung, wenn es ihnen gelingt, Glauben zu schaffen, ihn wachsen und sich entfalten zu lassen.

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