Das 15. Kapitel des Römerbriefs gehört gewissermaßen zu dem Abspann des Briefes. Alles Wesentliche ist gesagt, wozu eine ausführliche Darstellung der Rechtfertigungslehre und des Verhältnisses zwischen Israel und Kirche gehört. Nun werden noch, wo sich gerade die Gelegenheit bietet, weitere Themen angeschnitten, was gerade im Raum steht, z.b das Miteinander von nicht jüdischen und jüdischen Christen in den Gemeinden.
Paulus konnte sehr gereizt reagieren, wenn seine Entdeckung, dass wir allein durch den Glauben bei Gott gerecht sind und nicht etwa durch die Erbringung bestimmter Leistungen - wenn also diese seine zentrale Entdeckung durch was auch immer oder durch wen auch immer in Frage gestellt wurde. Das war z. B. der Fall in den Gemeinden, an die der Galaterbrief gerichtet ist, wo judenchristliche Missionare behauptet hatten, man könne Christ nur sein, wenn man zugleich auch Jude ist, also wenn man sich an die für Juden verbindlichen Weisungen hält. Das spiegelt den Grundkonflikt wieder, der die ersten Gemeinden ziemlich beherrscht hat, nämlich das Miteinander von Christinnen und Christen aus dem Judentum und solchen, die vorher keine Juden waren. Eigentlich dürften sie, um ein Beispiel zu nennen, ihre Mahlzeiten nicht am selben Tisch einnehmen, weil das mit den biblischen Reinheitsbestimmungen nicht vereinbar war - aber dann konnte man auch nicht zusammen Gottesdienst feiern, denn der war damals nur in der Tischgemeinschaft möglich. Paulus polemisierte heftig gegen die judenchristlichen Missionare, die die jüdische Lebensweise auch für nichtjüdische Gemeindeglieder verbindlich machen wollten, aber er ging mit großer seelsorgerlicher Behutsamkeit mit den Fragen um, die durch das jüdisch-nicht jüdische Miteinander aufgeworfen wurden. In Korinth waren es die nichtjüdischen Christen, die sich der Kritik ausgesetzt sahen, wenn sie möglicherweise Fleisch aßen, das für heidnische Opferkulte bestimmt und dementsprechend deklariert war. In den römischen Gemeinden lagen die Dinge ähnlich, nur genau umgekehrt: dort waren es die jüdischen Gemeindeglieder, die Angst hatten, Fleisch zu essen das möglicherweise nicht koscher war. Beides Gründe, sich ein Gewissen zu machen. Paulus unterscheidet die Starken, also diejenigen, die sich darum nicht kümmerten und sich keine Sorgen machten, und die Schwachen, die verunsichert waren, ob man dieses oder jenes Fleisch essen darf oder nicht. Was man sich vor Augen halten muss ist, dass die nichtjüdischen und jüdischen Christen trotzdem in ihren Gemeinden zusammenblieben und sich nicht trennten. Dazu war der seelsorgerliche Rat des Paulus – also die Ermutigung, sich gegenseitig so wie man lebt anzunehmen ohne sich gegenseitig zu korrigieren zu versuchen – möglicherweise sehr wichtig und hilfreich. Es ist nicht entscheidend, ob das Fleisch, für Götzenopferkulte geweiht sind oder nicht oder ob es koscher ist oder nicht. Es kommt auf etwas ganz anderes an, nämlich darauf, sich so wie man ist und lebt anzunehmen. Das scheint damals ein ganz entscheidendes Element des Gemeindelebens gewesen zu sein, was dazu beigetragen hat, dass die Gemeinden ihre eigentümliche Ausstrahlung auf ihre Umwelt hatten. Das musste Eindruck auf die Menschen damals machen. Nicht die Beachtung irgendwelche Regeln war von Bedeutung, sondern der sehr menschliche Umgang miteinander. Zu diesem Umgang gehört die gegenseitige Achtung, das gegenseitige Annehmen, das gegenseitige Wahrnehmen. Ein solche Umgang ist übrigens weder typisch jüdisch noch typisch christlich. Er ist einfach menschlich notwendig. Menschen können nur zusammenlebeben, wenn sie sich gegenseitig achten, annehmen, wahrnehmen, ganz gleich woran sie glauben und ob sie glauben oder nicht. Aber gerade das war es wohl, was die Gemeinden der ersten Zeit auszeichnete und wodurch sie in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit auffielen. Es ist ein Kennzeichen christlicher Gemeinden, dass Menschen aus sehr unterschiedlichen Traditionen, Mentalitäten und Kulturen miteinander Gemeinden bilden und leben können. In einer multikulturellen Metropole, wie Rom eine war, war das auch anders ja gar nicht denkbar. Für unsere gegenwärtige Situation gilt exakt das Gleiche. Nur ein kleines Beispiel dafür: Darf man als nicht katholischer Christ an einer katholischen Eucharistiefeier teilnehmen? Nach katholischen Kirchenverständnis geht das nicht. Die einen sehen da gleichwohl kein Problem drin, für die anderen geht gar nicht. Auch ich mache mir kein Gewissen daraus, in einer katholischen Messe den Leib Christi zu empfangen. Aber wenn ich weiß, da ist jemand, der könnte daran Anstoß nehmen, dann tue ich das nicht. Ist das jetzt inkonsequent oder ist das tolerant? (3. Sonntag im Advent: Römer 15,4-13, Reihe 1 der Ordnung Gottesdienstlicher Texte und Lieder)
Das Jesajabuch ist eine über mehrere Jahrhunderte entstandene Sammlung prophetischer Texte in der Tradition des Propheten Jesaja, der vor dem Exil, also im 8. Jahrhundert v. Chr. aufgetreten ist. Einige Texte sind von ihm selbst. Sie sind gekennzeichnet von tiefer Reflexion und hoher sprachlicher und poetischer Qualität. Wie bei anderen "Schrift"-Propheten bildete sich um ihn ein Schülerkreis, der sich ihm verpflichtet gefühlt und seine Botschaft dokumentiert und mit eigenen Texten und Gedanken weitergeführt hat. Zu ihm gehören weitere Propheten-Persönlichkeiten wie der "zweite Jesaja". Der für den zweiten Adventssonntag vorgesehene Abschnitt ist erst sehr spät, nach dem Exil, in diese Textsammlung aufgenommen worden, gewissermaßen als Rückblende in die Zeit vor der Katastrophe. So erscheint zwischen all den dunklen und harten Propheten-Worten ein Lichtblick und es wird deutlich, dass das damals angekündigte Gericht Gottes nicht sein einziges und letztes Wort war. Das Gericht hat gewissermaßen eine heilsame Rückseite. Es ist kein Zufall, dass es an diese Stelle im Jesajabuch platziert wird, denn in ihm ist von Vergeltung die Rede. Vergeltung, Abrechnung ist das Thema auch im vorhergehenden 34. Kapitel. Der Kernsatz lautet: "Seht, da ist euer Gott!" (Luther 2017) oder "Seht, das ist euer Gott!" (Basisbibel) oder hebräisch wörtlich: "Seht: Euer Gott!". Wenn Gott sich sehen lässt, dann geschieht Vergeltung, dann wird abgerechnet, dann wird Rache geübt, von der in den Psalmen so oft die Rede ist - Rache im Sinne von Wiederherstellung der Gerechtigkeit. In evangelischen Predigten ist immer von dem "guten Gott" die Rede (statt vom "lieben" Gott, was inzwischen etwas abgedroschen klingt). Auch in den Gebeten wird er gerne als "guter Gott" angeredet. Aber wieso ist Gott eigentlich gut? Ist er das? Zuweilen hat man in evangelischen Predigten den Eindruck, wenn Gott kommt, dann ist Zeit für eine Generalamnestie und alles wird gut. Eine Generalamnestie würde aber verhindern, dass das Gute gut und das Böse böse genannt wird - und genau das ist das Problem. Da kommt Gott so harmlos rüber, aber in Wirklichkeit ist das nicht mehr Gott, sondern nur noch das, was wir uns unter ihm vorstellen, was wir gerne hätten. Wenn Gott kommt, wird den Bösen das Böse vergolten, und den Guten das Gute - das ist die Botschaft von Jesaja 35. Die heilsame Rückseite der Vergeltung nimmt dann in der Proklamation des Reiches Gottes Gestalt an, vergleiche Jes 35,5 mit Mt 4,11. Spannend ist, dass der Ruf: "Kehrt um, das Reich Gottes ist angekommen" sehr entgegengesetzte Gefühle auslöst: Bei Johannnes dem Täufer klingt er bedrohlich, bei Jesus befreiend. Vergeltung ist beides, nämlich dass das Böse böse und das Gute gut genannt wird.
(2. Sonntag im Advent: Jesaja 35,3-11, Reihe 1 der Ordnung Gottesdienstlicher Texte und Lieder)
Mit dem ersten Adventssonntag beginnt zum zweiten Mal die sechsjährige Lese-Ordnung, mit deren Hilfe sich durch die ganze Bibel wandern und sich an den wichtigen Stationen Halt machen lässt. Meine Idee ist, wir wandern mit. Wir werden nicht überall Halt machen können, aber vielleicht doch an der einen oder anderen markanten Stelle, hier zum Beispiel an einem der Stadttore in Jerusalem Mt 21,1-11. Es waren die Pilger aus Galiläa im Norden, die Jesus den Empfang bereiteten, denn dort kannten sie ihn, aber in Jerusalem war er unbekannt, was die Frage der Leute in Vers 10f. - "wer ist er nur?" - und die Antwort der Galiläer darauf erklärt. Die Jerusalemer sind allerdings nicht sonderlich beeindruckt, sie kennen das schon, immer wieder gibt es irgendwelche Messiasse, deren Auftritt dann in aller Regel fürchterlich endet, und auch als die Galiläer ihn als "Sohn Davids" anrufen, war das für sie nicht unbedingt ungewöhnlich.
Doch scheint diese Szene - von Jesus selbst - wohlinszeniert zu sein. Er macht auf sich aufmerksam und weckt Assoziationen. Die Bibelkundigen unter Pilgern und Stadtbewohnern musste diese Szene, wie Jesus auf dem Esel reitet, an ein ihn vertrautes Wort aus dem Sacharjabuch erinnern, und auch werden sie in die Liturgie gedacht haben, die sie vom Einzug in den Gottesdienst im Tempel kannten. Jesus hat nie selbst von sich als Messias, als Sohn Davids oder gar als Sohn Gottes gesprochen, und tut das auch hier nicht - er wird es später im Prozess tun, wenn das Todesurteil über ihn gefällt wird. Aber wer es sehen und erkennen will, der wird es hier begreifen, was Jesus mit dieser Szene zum Ausdruck bringt: Ich komme im Namen Gottes, und es ist Gott selbst, der hier in die Stadt einzieht. Für die einen erfüllt sich hier eine Hoffnung, eine Sehnsucht, die anderen können nicht einschätzen, was hier gerade passiert, für sie ist das bedrohlich - und es wird für sie noch bedrohlicher werden, wenn es unmittelbar danach zu jener dramatischen Aktion im Tempel kommen wird, die als "Tempelreinigung" bekannt geworden ist.
Von Anfang an, vom ersten Sonntag des sechs Jahre dauernden Durchgangs durch die Heilige Schrift, ist als klar, dass hier keine triumphale Siegesgeschichte geschrieben wird. Jesus kommt, um
kläglich zu scheitern. Die Tage in Jerusalem werden im Desaster und in seinem Tod enden. Das auszuhalten ist nötigen, wenn man den Glauben der Christen verstehen will.
(1. Sonntag im Advent: Matthäus 21,1-11, Reihe 1 der Ordnung Gottesdienstlicher Texte und Lieder)
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