Die Freiheit als Strukturprinzip der evangelischen Kirche

Es wird nicht mehr reichen, sich gegenseitig auf die Schultern zu klopfen, was für tolle Arbeit wir doch leisten. Vielmehr wird es nötig sein, sich ohne Scheu und ohne Beschwichtigung einzugestehen, wie ratlos wir sind. Die für Beschlüsse auf der Synode vorgeschlagenen Maßnahmen sind Ausdruck von Panik, nicht von Zukunftsgewissheit. Es ist nicht absehbar, dass sie den weiteren Niedergang werden aufhalten können. Wenn wir ehrlich sind, wissen wir nicht wirklich, wie es weitergehen soll. Wir sind im freien Fall. Wachstum, Lebendigkeit, Eigendynamik, ohne die keine Kirche auf Dauer Bestand hat, bleiben aus. Ist das Ausdruck einer seit langem angelegten allgemeinen Entwicklung, auf die wir keinen Einfluss haben oder hat diese Entwicklung hausgemachte Gründe? Wahrscheinlich ist eine Mischung aus beidem.

 

Warum entwickelt unsere Kirche nicht die ihr eigentlich eigentümliche Eigendynamik, ohne die sie auf Dauer nicht wird existieren können und die die Kirche zu anderen Zeiten gekennzeichnet hat? Dafür kann man wohl eine Vielfalt von Gründen anführen. Ihr Effekt ist die Armut an Ausstrahlung. Unsere Kirche löst keine nennenswerte Resonanz aus. Deswegen wird sie in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Die Reaktion der Kirchenleitungen auf diese Entwicklung ist jedoch kontraproduktiv und verstärkt sie noch. Sie suchen die Rettung in einer verstärkten und zentralisierten Steuerung des kirchlichen Geschehens ("top down" statt "bottom up"), was aber eher verhindert, was eigentlich bewirkt werden soll. Wachstum, Lebendigkeit, Eigendynamik, Ausstrahlung, Resonanz lassen sich nicht steuern und bleiben unverfügbar. Vergleichbar mit der Vorgehensweise in Gartenbau oder Landwirtschaft lässt sich darauf zwar Einfluss nehmen, aber eben nicht durch möglichst umfassende Steuerung. Wachstum kann nur organisiert werden, indem man wachsen lässt, was wachsen soll. Ob es dann tatsächlich wächst, muss sich dann zeigen, weil viele nicht steuerbare Faktoren ebenfalls Einfluss darauf haben. Irgendwann bleibt einem nur, das Geschehen sich selbst zu überlassen, und wer dafür den Zeitpunkt verpasst, kommt zu spät und den bestraft das Leben.

 

Kirchenleitungen können auf gewisse - nicht auf alle - Bedingungen Einfluss nehmen, die kirchliche Lebendigkeit fördern. Irgendwann jedoch müssen sie sich selbst überlassen, was da wachsen will oder auch nicht. Bei gut gemeintem und gleichwohl ungeschicktem Leitungsverhalten kann aber ungewollt, statt es zu fördern, Leben auch erstickt werden. Leben sich selbst überlassen heißt, dem Leben die Freiheit geben, für sich selbst zu sorgen, also gewissermaßen für sich selbst die Verantwortung zu übernehmen. Genau hier liegt der Schlüssel zur Zukunft und zur Lebendigkeit unserer Kirche.

 

In diesem Sinne ist die Freiheit ein ganz wesentlicher Schlüssel zur Kirche nach evangelischem Verständnis. So, wie eine Demokratie ohne Freiheit nicht funktioniert, so auch die evangelische Kirche nicht. Ohne sie wird sie sinnlos. Um sie ist es in unserer Kirche aber zur Zeit nicht gut bestellt. Gleichwohl ist es weder möglich noch nötig, die derzeitige Entwicklung aufzuhalten. Sie lässt sich nicht einfach ab- oder unterbrechen. Sie darf und wird sich im Sinne eines langfristigen Prozesses des anhaltenden Niedergangs und Rückbaus noch eine ganze Weile fortsetzen. In ihrem Rahmen jedoch kann und muss die evangelische Kirche, in der die Freiheit ähnlich wie in einer Demokratie konstitutiv ist, neu begründet werden.

 

Freiheit herrscht, wenn die Beteiligten ihrem Gewissen folgend selbst Initiative ergreifen (können) und nicht auf Weisungen anderer handeln (müssen). An die Stelle der Unterordnung tritt die Eigenverantwortung. In diesen Sinne ist evangelische Freiheit zunächst die Freiheit des Pfarramtes. Pfarrerinnen und Pfarrer sind keine Funktionäre weder der Kirchenleitung noch des Kirchenkreises noch irgend einer sonstigen kirchlichen Instanz. Sie erhalten keine Weisungen und führen keine Aufträge von wem auch immer aus. In der Wahrnehmung ihres Dienstes in dem durch die Dienstanweisung oder den Arbeitsvertrag festgelegten Rahmen ergreifen sie selbst die Initiative und lassen sich durch ihr Gewissen leiten. Für ihren Dienst sind sie gründlich ausgebildet und intensiv vorbereitet. Um die Gediegenheit ihre Ausbildung zu sichern und diese vor der Instrumentalisierung durch Kirchenleitungen zu schützen, ist die Freiheit der Theologie zwingende Voraussetzung. Ihre Reife und Lebenserfahrung sind anerkannt. Sie leisten Rechenschaft und brauchen dafür auch die Zustimmung der Menschen, mit den sie es in ihrem Dienst zu tun haben. In dessen Zentrum steht, was die Kirche zur Kirche macht, nämlich die Verkündigung des Wortes Gottes und die Verwaltung der Sakramente als der Bundeszeichen. Sie sind präsent, erreichbar, ansprechbar, suchen selbst den Kontakt, sprechen selbst an, sind achtsam und wach. In all dem sind sie frei und unabhängig.

 

Mit ihrem Dienst fördern Pfarrerinnen und Pfarrer die Freiheit eines Christenmenschen, die sie genauso zu achten haben, wie ihre Freiheit geachtet wird. Auch hier zeigt sich eine Parallele zum Phänomen der Demokratie: Die Inanspruchnahme der durch die Demokratie gewährten Freiheit setzt Bildung voraus, von der Elementarbildung über den Kindergarten, den Schulunterricht, die Konfirmandenarbeit bis hin zur Erwachsenenbildung und zum lebenslangem Lernen. Dabei geht es nicht nur um Wissensvermittlung, sondern um die Einübung und Ausübung des Glaubens selbst, der aus folgenden Elementen besteht:

  • Das Vertrauen, das in Gelassenheit, Tiefenentspannung und In-sich-ruhen zum Ausdruck kommt;
  • die Kenntnis und das lebenslange Studium der Geschichte und Herkunft unseres Glaubens, die in den biblischen Schriften dokumentiert wird;
  • die Pflege des Kontaktes und der Beziehung zu Gott, die in den vielfältigen Gestalten des Gebetes zum Ausdruck kommt;
  • die Beteiligung und Mitwirkung an der Feier des Gottesdienstes, in dem im Namen Jesu Gott angerufen wird, das Wort Gottes verkündet wird, in Taufe, Tauferinnerung und Abendmahl der Neue Bund vergegenwärtigt wird in Menschen etwa in Handauflegung und Salbung gesegnet werden;
  • die Übernahme von Verantwortung in Gemeinde, Nachbarschaft, Öffentlichkeit und kulturellem Leben gemäß der eigenen Begabungen und Fähigkeiten;
  • die Verlässlichkeit in der Pflege der Gemeinschaft und geschwisterlichen Beziehungen.

Dem dient auch die Seelsorge, die Präsenz und Ansprechbarkeit der Pfarrpersonen und das gemeinsame geistliche Leben. Christenmenschen sind keine Dienstleistungsempfänger (oder "Kunden") mit einem Anspruch auf einen pastoralen Service, sie sind die eigentlichen mündigen und selbstverantwortlichen Trägerinnen und Träger des Priestertums der Getauften und des gemeinsamen kirchlichen Lebens, die auch nicht zwingend auf die Anwesenheit von Pfarrpersonen angewiesen sind und auch ohne sie ein vollwertigen Gemeindelebens verantworten können.

 

Daraus ergibt sich die Freiheit der Ortsgemeinde, wobei die Bezeichnung "Gemeinde" als Bezeichnung für das, was gemeint ist, nicht angemessen ist. Seit jeher bezeichnet "Gemeinde" eine räumlich festgelegte Verwaltungseinheit, die öffentlich und allgemein zugänglich und "allen gemein" ist. In diesem Sinne wird die Bezeichnung "Gemeinde" auch in der Kirchensprache verwendet, sie wird nicht durch die dazu gehörenden Personen definiert, sondern durch ein bestimmtes Gebiet oder eine Region. Sie gibt aber das im Neuen Testament Gemeinte nicht korrekt wieder. Gemeinde im Neuen Testament ist stets ein überschaubares Netzwerk von Menschen, die sich gegenseitig kennen und verlässlich in Verbindung bleiben, die sich regelmäßig versammeln und die offen sind, mit anderen außerhalb oder am Rande dieses  Netzwerkes neue Kontakte zu knüpfen. Die Gemeinde in diesem Sinne ist unabhängig und für sich selbst verantwortlich und steht mit anderen Gemeinden in der Nähe im regelmäßigen Austausch. Es liegt nahe, hier nicht mehr von "Gemeinde" zu sprechen, sondern, je nach den Umständen der jeweiligen Versammlung von Hauskirche oder von Ortskirche zu sprechen.

 

Dieser Tatbestand gewährt die Möglichkeit einer Neukonstituierung der evangelischen Kirche innerhalb der gegebenen Verhältnisse. Denn die Basis der Kirche ist nicht die Gemeinde im landläufigen, oben beschriebenen Sinn (als eine auf ein bestimmtes Gebiet bezogene öffentliche Verwaltungseinheit), sondern die Haus- oder Ortskirche, also die sich tatsächlich um die Anrufung, die Verkündigung, die Feier des Neuen Bundes und den Segen sich versammelnde Gemeinschaft der Schwestern und Brüder und Kinder Gottes.  Die Gründung von freien und für sich selbst verantwortlichen Haus- und Ortskirchen im Rahmen unserer Landeskirche wären der erste Schritt auf dem Weg einer erneuerten evangelischen Kirche im Rheinland.

 

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