Der Heidelberger Katechismus fasst in der 86. Frage und in der Antwort darauf mustergültig zusammen, wie die evangelische Kirche funktioniert:
"Da wir nun aus unserm Elend ganz ohne unser Verdienst aus Gnade durch Christus erlöst sind, warum sollen wir gute Werke tun? Wir sollen gute Werke tun, weil Christus, nachdem er uns mit seinem Blut erkauft hat, uns auch durch seinen Heiligen Geist erneuert zu seinem Ebenbild, damit wir mit unserem ganzen Leben uns dankbar gegen Gott für seine Wohltaten erweisen und er durch uns gepriesen wird. Danach auch, dass wir bei uns selbst unseres Glaubens aus seinen Früchten gewiss werden und mit einem Leben, das Gott gefällt, unsern Nächsten auch für Christus gewinnen."
In diesen wenigen Worten ist alles gesagt und zur Sprache gebracht, was die Kirche zu einer evangelischen Kirche macht. Ein Mensch erfährt - durch die Erlösung ohne unser Verdienst aus Gnade durch Christus - Befreiung. Sie kann sich spontan und unwillkürlich einstellen, sie kann aber auch das Ergebnis eine geduldigen Einübung des Glaubens sein. Sie löst Dankbarkeit aus, die ihn zum ersten motiviert, Gott die Ehre zu geben, ihn also Gott sein zu lassen. Zweitens veranlasst sie ihn, sich immer wieder seines Glaubens zu vergewissern, wozu ihm verhilft, was der Glaube bewirkt und verändert, also die Früchte des Glaubens. Drittens hat der Glaube eine Ausstrahlung, er löst Resonanzen aus, so dass andere Menschen in seinem Umfeld (die "Nächsten") davon angerührt werden, was bei ihnen zuweilen auslöst, dass sie selbst glauben. So entsteht eine ungeplante Eigendynamik und der Glaube wird, oft unbeabsichtigt und unbemerkt, weitergegeben. Missionarische Großprojekte, Medienkampagnen und Imageprojekte sind daher eigentlich überflüssig, der Glaube ist ein Selbstläufer. Die Barmer Erklärung spricht hier in der zweiten These von der "frohe(n) Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen."
Martin Luther bringt diesen Sachverhalt auf die Formel von der "Freiheit eines Christenmenschen". Die gleichnamige Schrift, die schon in der allerfrühesten Phase der Entstehung der Evangelischen Kirche Pate stand, wird gleich zu Beginn mit ihren Kernsätzen eingeleitet: "Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan, und: Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan."
Heute würden wir statt von Dienstbarkeit von Verantwortung sprechen, wobei Freiheit und Verantwortung zwei Seiten ein und derselben Sache sind: Wofür ich verantwortlich bin, entscheide ich, durch mein Gewissen geleitet, eigenständig, „ohne Leitung eines anderen" (wie Kant das in seiner berühmten Schrift: „Was ist Aufklärung?“ formuliert). Christenmenschen verhalten sich in diesem Sinne mündig und gewissenhaft. Freiheit und Dienstbarkeit, Eigenständigkeit und Verantwortung, Gelassenheit und Entschlossenheit, Mündigkeit und Gewissenhaftigkeit sind Kennzeichen evangelischen Christseins. Dies ist auch mit der Rede vom Priestertum der Getauften gemeint. Damit wird der Begriff der Freiheit im Neuen Testament – als Gegensatz zu Knechtschaft – aufgegriffen, vergleiche dazu 2. Kor 3,17; Gal 5,1; Röm 8,21 oder Joh 8,36. Wenn Christenmenschen von ihrer Freiheit in diesem Sinne Gebrauch machen, entsteht Wachstum, zum einen im Sinne eines persönlichen Reifeprozesses, eines inneren Wachstums gewissermaßen, aber auch im Sinne eines äußeren Wachstums, in dem sich Christenmenschen zu Gemeinschaften, Gemeinden oder Kirchen (Orts- und Hauskirchen) vernetzen. Stets und grundsätzlich geschieht Wachstum aus sehr kleinen Anfängen heraus, worauf Jesus selbst in seinem Senfkorngleichnis hinweist (Mk 4,30-32, vgl. Mt 18,20). Wachstum lässt sich auslösen und in gewissen Grenzen beeinflussen, aber nicht steuern, vielmehr ist es von Eigendynamik gekennzeichnet. Wachstum entwickelt sich nicht auf ein bestimmtes Ziel hin, sondern entwickelt sich aus einem bestimmten Ursprung heraus. Bei Prozessen ist das umgekehrt.
Damit erweist sich die Freiheit eines Christenmenschen als Strukturprinzip der Kirche im evangelischen Sinn. Das Pfarramt ist dafür zwar nicht konstitutiv – das wäre mit dem Priestertum der Getauften nicht vereinbar – wohl aber hat es sich in den Jahrhunderten seit der Reformation als Institution erwiesen, die geeignet ist, dieses Geschehen zu begleiten. Im Sinne einer (neben der Weiterbildung mindestens ebenso wichtigen) Elementarbildung befähigen, unterstützen und begleiten Pfarrerinnen und Pfarrer Menschen, die das Priestertum der Getauften wahrnehmen und Gebrauch von ihrer Freiheit machen. Das ist aber nur möglich, wenn Pfarrerinnen und Pfarrer selber ihren Dienst frei und gewissenhaft wahrnehmen können. Es ist nicht möglich, wenn sie ihren Dienst als Funktionärinnen oder Funktionäre der Kirche tun und gehalten sind, Weisungen für ihn entgegenzunehmen.
Um in diesem Sinne Kirche zu gestalten und zu leiten, bedarf es keine großen Umbauten oder langfristiger Reformprojekte. Wir können sofort, jetzt schon damit anfangen. Entscheidend sind die kleinen Anfänge und die Entschlossenheit, den Glauben einzuüben und zu leben, bis sich irgendwann die oben beschriebene Eigendynamik und das Wachstum von selbst einstellen. Die Glaubenden werden nicht alleine bleiben. Sie schließen sich zusammen und bilden die Kirche, ein nach außen offenes Netzwerk persönlicher und verlässlicher Kontakte und Beziehungen. Im Neuen Testament wird dafür der Begriff "ekklesia" benutzt. Es wäre aber nicht richtig, ihn im Deutschen mit "Gemeinde" wiederzugeben, was eine Quelle häufige Missverständnisse ist. Der Begriff „Gemeinde“ meint seit seiner Entstehung im Mittelalter stets eine gebietsbezogene öffentliche, alle betreffende Verwaltungseinheit („was allen gemein ist"). Es ist sinnvoll, diesen Begriff in diesem Sinne weiterzuverwenden, aber dann existiert kein geeigneter Begriff für Versammlung der Christinnen und Christen vor Ort. Am ehesten lässt sich von Ortskirche oder von Hauskirche sprechen, denn der neutestamentliche Begriff meint sowohl die Gesamtheit der Christen wie auch deren Versammlung vor Ort oder im Haus, als überschaubares, verlässliches und gleichwohl dynamisches Netzwerk von Beziehungen und Kontakten. Für eben diese Gestalt der Kirche im Haus oder vor Ort gilt ebenfalls, dass sie sich gewissenhaft und "ohne Leitung eines anderen" gründet und leitet. Solche Haus- und Ortskirchen können am besten selbst entscheiden, was sie brauchen, was sie leisten und sich leisten können. Deren Mitglieder werden sehr viel mehr bereit sein, sich auch finanziell für sie zu engagieren. Die Gesamtkirche kann subsidiär solche Orts- und Hauskirchen unterstützen, aber zunächst sind diese für sich selbst verantwortlich. Das gehört zur Freiheit dazu.
In diesem Sinne lohnt es sich, die evangelische Freiheit zum Ausgangspunkt und zur Grundlage aller kirchlichen Reformmaßnahmen zu machen.
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