In seinem Engagement gegen die öffentliche Unterstützung des Kirchentags, der für 2027 in Düsseldorf geplant ist, beruft sich der bekennend atheistische und kirchenkritische "Düsseldorfer Aufklärungsdienst" auch auf ein biblisches Zitat, nämlich 1. Mose 11,1: "Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache". Dieses Wort hing während einer Pressekonferenz als Transparent über den Vertreterinnen und Vertretern des Aufklärungsdienstes, während sie ihr Anliegen erläuterten. Der Sinn dieses Bibelwortes wird deutlich, wenn man daneben ein anderes Zitat legt, auf das die Aufklärer sich ebenfalls berufen, das aber nicht aus der Bibel stammt, sondern von Immanuel Kant: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen."
Wenn also der Mensch nur den Ausgang aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit und den Mut findet, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen, dann wird alle Welt einerlei Zunge und einerlei Sprache haben. Dazu bedarf es nur des Mutes zur Aufklärung! Ob sich das tatsächlich so verhält, sei erstmal dahingestellt, schließlich ist Immanuel Kant 220 Jahre tot, es hätte also reichlich Zeit gegeben, an dieses unter Beweis zu stellen – es sei denn, man betrachtet die gegenwärtigen Verhältnisse in der Welt als eine Verwirklichung dieser Beschreibung vom Anfang der Turmbaugeschichte. Aber selbst wenn ein solcher Zustand denkbar wäre, dann – und das ist doch die Pointe der Turmbaugeschichte – dann ist gerade nicht garantiert, dass er immer so bleibt und vor erneuter Zerstreuung sicher ist.
Wir erfahren nicht, was die Menschen damals glaubten und ob sie überhaupt glaubten. Sie erinnern ein bisschen an die Generationen in unserer Zeit. Auch heute spielt keine Rolle, was und wie und ob wir glauben. Das macht jeder mit sich aus. Niemand muss sich mehr bekennen und jeder kann jederzeit seinen Glauben wechseln oder mehrere Glauben gleichzeitig haben oder auch gar keinen. Das geht in Ordnung und muss uns nicht beschäftigen. Eine andere Parallele zwischen damals und heute war, das alle Welt "einerlei Zunge und Sprache" hatte (1. Mose 11,1, BB: "Damals hatten alle Menschen nur eine einzige Sprache – mit ein und denselben Wörtern"). Mit den uns vertrauten sozialen Medien wie Facebook, Instagramm oder X sind - oder besser: waren - wir sehr nahe an diesem Zustand. Entfernung spielt keine Rolle mehr und Fremdsprachen sind kein Hindernis mehr, sie werden automatisch, in Echtzeit und in guter Qualität in die eigene Sprache übersetzt. Die sozialen Medien hätten unter Beweis stellen können, dass sich hinter aller weltweiten sprachlichen und kulturellen Vielfalt "einerlei Zunge und Sprache" verbirgt. Sie sind gescheitert. Die Reichen und Mächtigen brauchen Sie, um mit Hilfe von Fake News, Täuschung und Lüge ihre Sicht der Dinge in die Köpfe der Menschen einzupflanzen. Man kann nicht mehr gewiss sein und es ist eher unwahrscheinlich, dass die Dinge sich so verhalten, wie sie sich darstellen. Am Ende tritt wieder Zerstreuung ein. "Einerlei Zunge und Sprache" ist offenbar ein höchst instabiler Zustand. Er wird nicht lange anhalten. Sie müssten stets sicher sein und sich darauf verlassen können, dass sie auf die Wahrheit stoßen. Es gibt keine Anhaltspunkte, darauf vertrauen zu können. Und wer sich mitteilt - weiß er, wer das mitbekommt? Wer kennt sie? Wer beachtet ihre Nachrichten und Mitteilungen? Sie rufen oder schreiben ins Leere und keiner hört sie oder liest, was sie geschrieben haben. Keiner weiß, wie sie heißen und ob es sie überhaupt gibt.
Wer Gehör finden und wahrgenommen werden will, muss anrufbar sein. Man muss ihn kennen. Er braucht einen Namen. Ohne Namen kann niemand existieren. Die Menschen in der Turmbaugeschichte fragen nicht, worauf sie sich verlassen können und wer oder was ihnen Sinn gibt, und welchen. Sie sind vielmehr damit beschäftigt, einen Namen haben. Sie wollen sich einen Namen machen. Bei allem, was sie schaffen und leisten, soll ihr Name zu lesen sein. Erst dann lässt sich Leidenschaft für das entwickeln, was sie schaffen und leisten (sollen oder wollen), wenn jeder weiß, dass sie es sind, die das geleistet oder geschaffen haben. Ihre Werke sollen ihnen zugeordnet werden können. Dazu sind die Namen notwendig. Wer ein großes Buch schreibt, ein Musical komponiert, ein Gebäude errichtet oder was sonst Großes leistet - es würde ihn nicht reizen, wenn nicht darunter sein Name stünde. Das würde ihn ehren. Es würde ihm Anerkennung und Respekt verschaffen. Er würde an Autorität und Einfluss gewinnen, ihn schützen und ihm Sicherheit geben. Er muss nicht zwingend wissen, woher er kommt, was ihm Sinn gibt, worauf er sich verlassen kann - aber er braucht einen Namen, er möchte bekannt sein und je bekannter er ist, je mehr sein Name verbunden ist mit dem, was er geschaffen und geleistet hat, je unangreifbarer wird er sein.
Die Menschen in der Turmbaugeschichte haben genau diese Erfahrung im Sinn. Wenn es ihnen gelingt, einen solchen Turm zu bauen, wie sie ihn sich vorstellen können - wer will ihnen da noch was anhaben können. Man wird sich - buchstäblich - vor ihnen in Acht nehmen. Aber warum muss der Turm bis an den Himmel reichen? Es ist fast schon kurios: Auf der einen Seite verfügen Sie über eine hoch entwickelte Technologie, die ihnen den Turmbau ermöglicht - die "Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel" (11,3) sind ein Hinweis darauf, was damals Stand der Technik war - auf der anderen Seite ist ihre Vorstellung vom Himmel naiv und geradezu dumm. Sie merken - noch - nicht, wie lächerlich die Idee ist, den Himmel zu erreichen. Spannend ist, dass der Turm "bis an den Himmel" reichen soll, nicht "bis zu Gott". Sie interessieren sich nicht für Gott, den sie ja auch nicht kennen, sondern nur für den Himmel. Es sieht wirklich so aus, als sei der Himmel - noch - leer und als könnten sie diejenigen sein, die ihn besiedeln. Und von da oben haben sie freie Sicht, es kann sie nichts mehr überraschen und ihnen nichts mehr zustoßen. Fragt man den Milliardär Elon Musk, warum er zum Mars will, hört man die philanthropische Antwort: „Wenn wir multi-planetar sind, erhöhen wir die Lebenserwartung unserer gesamten Existenz“. Musk will also nichts Geringeres als das Überleben der Menschheit sichern - der gleiche, der vorher massiv in die sozialen Medien investiert hat, mit deren Hilfe die Menschen zu "einerlei Zunge und Sprache" verholfen werden könnte, was aber, wie wir schon gesehen haben, gerade nicht gelingt.
Wenn nicht klar ist, was im Himmel ist, müssen die Menschen dorthin. Was nicht heißt, dass Gott nicht in der Turmbaugeschichte vorkäme. Er schaut sich das alles an, was da passiert, und man hat fast den Eindruck, dass Gott sich prächtig amüsiert und es nicht so ganz ernst nimmt. Das Entscheidende ist, dass keinerlei Kommunikation zwischen Gott und Menschen stattfindet. Gott macht sich seine Gedanken über sie, aber er spricht die Menschen nicht an. Die Menschen machen sich Gedanken über den Himmel, aber sie kommunizieren nicht mit ihm oder was da sein könnte. Aber irgendwie ist ihnen der Himmel doch unheimlich, gerade weil sie nicht wissen, was da ist. Deswegen wollen sie da hoch. Sie wollen den Himmel in den Griff kriegen, sie wollen ihn steuern, um nicht von ihm gesteuert zu werden.
Es ist ein Grundgefühl auch unserer Zeit, dass der Himmel schweigt. Das sorgt dafür, dass die Menschen zwar nicht religionslos werden, aber ihre Religion hat keine Gestalt, kein Profil mehr. Alles wabert. Alles ist vage. Da ist nichts, worauf man sich verlassen kann, was gewiss ist. Der Himmel meldet sich nicht zu Wort. Darum konzentrieren, damals wie heute, die Menschen sich darauf, einen Namen zu haben, der sie schützt. So bewirken sie am Ende, was sie gerade vermeiden wollten. Sie verstehen sich nicht mehr und unterscheiden nicht mehr zwischen Lüge und Wahrheit und können das irgendwann auch nicht mehr. Sie werden zerstreut und sind erst recht ihren Schicksalen, Feinden und Ängsten wehrlos ausgeliefert.
Der Düsseldorfer Aufklärungsdienst präsentiert sich unter dem Satz "Es hatte alle Welt einerlei Zunge und Sprache." Die Botschaft dahinter lautet: Wenn wir nur nicht daran gehindert werden, uns mutig und ohne Leitung eines anderen unseres Verstandes zu bedienen, dann steht "einerlei Zunge und Sprache" nichts im Wege. Es geht, mit anderen Worten, um die Freiheit. Sie ist dafür nicht nur notwendige, sondern hinreichende Voraussetzung.
Aber um die Freiheit geht es auch der Heiligen Schrift. Wenn wir heute über Freiheit sprechen und sie zu den höchsten Werten unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens zählt, dann hat das seine Wurzeln auch dort. Die biblische Geschichte erzählt, wie Freiheit entsteht. Um sie zu erzählen, müssen wir weit ausholen. Gerne wird im Zusammenhang mit der Turmbaugeschichte die Pfingstgeschichte erzählt, weil dort die Sprachbarrieren gefallen sind. Aber es gibt noch zwei andere Gegenstücke dazu. In der einen öffnet der Himmel sich völlig überraschend und löst damit eine Kettenreaktion aus. Die andere folgt unmittelbar auf die Turmbaugeschichte. Nach dem sie dort versucht haben, sich einen Namen zu machen, bekommt ein Mensch, nämlich Abraham, das Versprechen: Ich will dir einen großen Namen machen.
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